TEXTE von mir siehe auch unter Zisterzienser (deren Spiritualität, Bernhard usw.)
NACHFOLGE JESU HEUTE
Zwei heutige Extreme: Fast folgenlose kirchliche Sozialisation und Martyrium
Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sind alle Getauften, insofern sie geistliche Nachfahren Jesu und seiner ersten Jünger sind. Kraft ihrer Taufe sind sie Mitglieder der ekklesía, der Gemeinschaft der aus den Wertmaßstäben und Verhaltensweisen der Welt „Herausgerufenen“. Gemeinsam sollen sie als „Kirche“, kyriakè, „dem Herrn Gehörige“, in dieser Welt gemäß dem Beispiel und den Weisungen Jesu leben, also auf die ihm entsprechende alternative Weise.
Aber offensichtlich genügt die übliche religiös-kirchliche Sozialisation – weithin in Form der Kindertaufe – nicht, um durchweg profilierte Nachfolger Jesu hervorzubringen. Die heutige Weltbevölkerung zählt 7,2 Milliarden Menschen, wovon 2,3 Milliarden Christen sind, also fast dreißig Prozent. Wenn diese alle entschieden als Nachfolger Jesu leben und sich engagieren würden, müsste es in unserer Welt ziemlich anders zugehen.
Laut Schätzungen des evangelischen Hilfswerks Open Doors erleiden derzeit weltweit rund 100 Millionen Christen Verhöre, Gefängnisse, Folterungen und Tod. Das ist eine Form der heutigen konkreten Nachfolge Jesu, eine sehr dramatische, nämlich das Martyrium. In den Jahren 2000 bis 2010 wurden alljährlich durchschnittlich 100 000 Christen getötet. Das heißt, statistisch gerechnet wurden im Lauf dieser elf Jahre rund um die Uhr stündlich elf Christen ermordet. Das geht bis heute so weiter, wie der Autor John Allen in seinem demnächst im Gütersloher Verlagshaus erscheinenden Buch „Krieg gegen Christen“ ausführlich darlegt.
Um diese Form der „Nachfolge Jesu heute“ wird es hier nicht gehen; doch sollte sie uns als Realität lebhaft bewusst sein.
Die Nachfolge Jesu als vorsätzliche Lebenspraxis beruht heute wie schon immer auf einer persönlichen inneren Begegnung mit Jesus und einer Berufung durch ihn. Menschen werden persönlich von seinem Beispiel und Wirken fasziniert. Sie ziehen daraus praktische, sichtbare Konsequenzen für ihr Alltagsleben, entscheiden sich also freiwillig und ausdrücklich dafür.
Die meisten Christen sind bald nach ihrer Geburt, also als unmündige Kinder, in der Taufe der Nachfolge Jesu geweiht worden. Die kirchlichen Initiationsfeiern der Konfirmation oder Firmung stellen den Versuch dar, die Jugendlichen dazu anzuleiten, dies bewusst und mündig persönlich zu bestätigen und als Lebensausrichtung zu wählen. Dieser Versuch, die junge Generation zur Nachfolge Jesu zu inspirieren, gelingt relativ selten. Oft geraten Konfirmation und Firmung praktisch gesehen eher zu einer Art von Kirch-Entlassfeier.
Vermutlich setzen diese Feiern im ungeeigneten Lebensabschnitt an. Für Jugendliche in der Pubertät stehen andere Interessen und Themen an als die Nachfolge Jesu. Doch dazu später noch einiges mehr.
In der katholischen Tradition: ein „Rätestand“ für die Nachfolge Jesu
In der katholischen Kirche hatte man mindestens ein Jahrtausend lang den allgemeinen Anspruch an die Christen, in der praktischen Nachfolge Jesu zu leben, aufgegeben und eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft eingerichtet: Da gab es den Stand der gewöhnlichen Christen, für die es genügte, sich an die allgemeinen moralischen und geistlichen Regeln der Kirche zu halten, und darüber hinaus für diejenigen, die sich zu mehr berufen fühlten, den Ordens-Stand oder „Stand der Vollkommenheit“, in dem sie sich der Nachfolge Jesu widmen konnten. Dazu prägte man für die zahlreichen kompromisslosen Anweisungen Jesu in den Evangelien den Begriff der „evangelischen Räte“. Das heißt, man nahm diesen konkreten Weisungen Jesu ihre allgemeine Verbindlichkeit und definierte sie als „Ratschläge“ für besonders Eifrige, die sich auf vollkommenere Weise der Nachfolge Jesu widmen wollten. Sie konnten folglich in den „Rätestand“ eintreten.
Indem man die Verwirklichung zahlreicher anspruchsvoller Forderungen Jesu an diese Spezialisten im „Stand der Vollkommenheit“ delegierte, entlastete man die „gewöhnlichen Christen“ von allzu hohen Ansprüchen.
Als ich Anfang der 1960er Jahre meine Berufung zur Nachfolge Jesu verspürte, war es für mich selbstverständlich, dass ich, um Christus ausdrücklich nachzufolgen, in einen Orden eintreten musste. Ich bin in Stuttgart aufgewachsen, in dessen Umgebung es kaum Klöster gab. Durch einen Zufall geriet ich in Kontakt mit den Franziskanern und trat nach meinem Abitur im Frühjahr 1963 bei diesen ein. Sie lebten in einer Tradition der Nachfolge Christi, die man lateinisch als imitatio bezeichnete, also wörtlich als „Nachahmung“ des Lebens Jesu und seiner Jünger. Da die Evangelien beschreiben, wie Jesus mit seinen ersten Jüngern als armer Wanderprediger durch Palästina gezogen war und auch entsprechende konkrete Anweisungen Jesu dazu überliefern, hatte Franziskus das im 13. Jahrhundert in Umbrien nachgeahmt und seinen Ordensbrüdern als Ideal hinterlassen. Aber 700 Jahre später – so merkte ich bald – hatte man sich in der Praxis doch schon ziemlich weit von den meisten dieser konkreten Anweisungen entfernt. Zudem empfand ich bald, dass mir in dieser Form des inzwischen längst fest institutionalisierten Ordenslebens die kontemplative Dimension zu sehr fehlte; praktisch erwartete einen nach dem Noviziat und dem Studium ein voller Einsatz in der Seelsorge. Infolge des beginnenden Priestermangels übernahmen die Ordensbrüder immer mehr Pfarreien oder Aushilfsdienste in solchen. Sie etablierten sich also zunehmend in kirchlichen Ämtern, was nicht eigentlich ihr überlieferter Stil und auch nicht meine Berufung war.
1964 stellten die Konzilsväter in Rom in der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ das breite Sortiment von Stilarten, das es an Orden in der Kirche gab, grob so vor: Man könne den Gläubigen wie den Ungläubigen „Christus sichtbar machen“, entweder „wie er auf dem Berg in der Beschauung weilt oder wie er den Scharen das Reich Gottes verkündet oder wie er die Kranken und Schwachen heilt und die Sünder zum Guten bekehrt oder wie er die Kinder segnet und allen Wohltaten erweist, immer aber dem Willen des Vaters gehorsam ist, der ihn gesandt hat“ (Lumen Gentium Kap. 6 Art. 46).
1966 wechselte ich in den kontemplativen Orden der Trappisten, der Reformierten Zisterzienser. Diese standen in der geistlichen Tradition Bernhards von Clairvaux, eines begeisterten Nachfolgers Jesu, der intensiv mit und aus der Bibel gelebt hatte.
Zwei verschiedene Zugänge: buchstäbliche Nachahmung Jesu oder Orientierung an Jesu Grundhaltung (modus)
In der Geschichte der Franziskaner hatte es Jahrhunderte hindurch Diskussionen und heftige Kontroversen, ja Spaltungen darüber gegeben, wie buchstäblich man in der Nachfolge Jesu leben sollte. Wie weit sollte, ja musste man bis in alle Einzelheiten die Lebensweise nachahmen, die Jesu vorgelebt und ans Herz gelegt hatte? Man stritt zeitweise sogar darüber, ob Jesus nur ein Gewand gehabt habe oder zwei; ob er barfuß oder in Sandalen gegangen sei oder ob er über Geld verfügt habe oder nicht – und was folglich die korrekte Form seiner Nachahmung sei.
Bernhard, der gute hundert Jahre vor Franziskus gelebt und seinen Orden mit Begeisterung verbreitet hatte, hatten diese Fragen noch nicht interessiert. Er hatte sich in seiner Betrachtung der Lebensstationen Jesu nicht in frommer Phantasie die Details bis ins einzelne ausgemalt, sondern durch die äußeren, konkreten Beschreibungen der Evangelien hindurch auf die innere Ausrichtung gesehen, modern gesprochen: auf den existenziellen Ansatz Jesu und erklärt: „Das Richtmaß ist die Selbstentäußerung Gottes (modus Dei exinanitio est); die Frucht besteht darin, dass wir von ihm erfüllt werden. Dies zu betrachten, ist der Wurzelgrund der heiligen Hoffnung; das ist der Zündstoff für die höchste Liebe“ (Hoheliedpredigt 11,3).
Bernhard hielt sich also konsequent an die Grundhaltung, den modus Jesu. Er war beeindruckt von der Entäußerung, der Erniedrigung und Demut und dem Gehorsam dessen, der, wie Paulus schrieb, „nicht daran festhielt, wie Gott zu sein, sondern sich entäußerte und wie ein Sklave wurde, den Menschen gleich“ (Phil 2,6-7). Dieser Ansatz ist weiter gefasst, lässt viele Spielarten zu und ist von zeitloser Plausibilität.
Nachfolge entzündet sich am Blick auf Jesus, wie ihn die Evangelien vorstellen
So ist also für die Nachfolge Jesu der Blick auf Jesus, wie ihn die Evangelien schildern und Paulus spiegelt, maßgeblich. Daran entzündet sich eine persönliche Begegnung mit ihm und man kommt mit ihm innerlich ins Gespräch. Es bedarf dazu der regelmäßigen Beschäftigung mit diesen Texten, bis sie einen lebendig ansprechen und man merkt, wozu sie einen persönlich anregen, ja auffordern.
Man muss also – um es noch einmal mit der Formulierung des Lukas-Evangeliums zu sagen – diese Schilderungen und Worte „in seinem Herzen bewegen“ (Lk 2,19.51). Das ist die Grundform der christlichen Meditation, eine existenzielle, auf das konkrete Leben gerichtete – auf das Leben Jesu und auf das eigene Leben. Jedem Menschen wird dabei im Lauf der Zeit etwas anderes, etwas Ur-Persönliches gesagt. Jeder erfährt auf diesem Weg seine ganz eigene, einmalige „Berufung“.
Der gemeinsame Nenner aller ist Jesus Christus und das, was die frühesten Zeugen von ihm überliefert haben, sowie der Umstand, dass jeder, der sich intensiv auf diese Quellen einlässt, etwas für seinen persönlichen Weg gesagt bekommt.
Die große kulturelle Kluft zwischen der Welt Jesu und der heutigen Welt
Nun sind die Evangelien fast zweitausend Jahre alt und schildern eine Lebensart zu einer völlig anderen Zeit und Kultur als der unsrigen. Unsere Kultur und unsere Umwelt haben sich gegenüber der damaligen radikal verändert. Mir ist das ganz deutlich geworden, als ich einige Zeit als Seelsorger bei den Menschen in Afrika gelebt habe, und zwar draußen in der Buschlandschaft. Da waren die Lebensverhältnisse noch fast genauso einfach und elementar wie zur Zeit Jesu. Ich war zu Fuß in der Buschlandschaft unterwegs, konnte in jeden Wohnsitz eintreten, bekam dort etwas zu essen und konnte bei Bedarf auch immer irgendwo in einer Hütte übernachten. Dabei hatte ich das Gefühl, in der Verkündigung zum Beispiel mit der Bergpredigt und den Gleichnissen Jesu sozusagen ebenerdig auf die Menschen zugehen zu können. Es passte alles ziemlich wörtlich ins Alltagsleben. Bei uns dagegen bedarf fast alles einer komplizierten hermeneutischen Umsetzung.
Für die Nachfolge Jesu tut sich also heute eine riesige Kluft auf zwischen der Lebenswelt Jesu und der unsrigen sowie zwischen den Verhaltensweisen Jesu und den unsrigen bzw. heute möglichen. Als Luise Rinser 1975 ihren Roman „Bruder Feuer“ schrieb und darin den Jesus-Nachfolger Franziskus ins 20. Jahrhundert versetzte, ließ sie diese Geschichte wieder in der umbrischen Landschaft spielen; hätte sie ihn in eine Großstadt versetzen wollen, wäre das sicher sehr viel schwieriger gewesen, wenn nicht unmöglich. Der moderne Franziskus hätte kaum noch Züge desjenigen im 13. Jahrhundert an sich gehabt.
Die Evangelien bieten keine ausführliche Jesus-Biografie, die sich nachahmen ließe, sondern ein Lebens-Grundmuster und dessen Sinn
Eine weitere Schwierigkeit für die Nachfolge Jesu ist der Umstand, dass die historischen Quellen über das Leben Jesu im Wesentlichen die vier Evangelien sind und diese zum Teil erst etliche Jahrzehnte nach seinem Tod verfasst wurden. So liefern sie keine historische Beschreibung seines tatsächlichen, konkreten Lebens, die heutigen Ansprüchen an eine sachlich korrekte Biografie genügen könnten. Zudem beschränken sie sich – abgesehen von den stark stilisierten kurzen Kindheitsgeschichten bei Matthäus und Lukas - auf die höchstens drei Jahre vor seinem Tod.
Dieser Umstand ist aber zugleich für uns hilfreich. Er eröffnet den gleichen Zugang zu Jesus, wie ihn schon – oder noch – Bernhard von Clairvaux hatte: Denn was wir von den Evangelisten über Jesus überliefert haben, ist eine Art von zeitloser Ikone Jesu, eine archetypische Beschreibung seiner Existenz und seines Schicksals, die – dank Ostern – das ermutigende Grundmuster für den Verlauf unseres eigenen Lebens und Schicksals vorgeben soll. Jesus wird folglich als der Mensch schlechthin vorgestellt. Sein Schicksal – seine Berufung – zeichnet die Grundlinien vor, nach denen die vielfältigen individuellen Schicksale von Menschen verlaufen und worauf sie hinauslaufen werden, sollen und können.
An der Gestalt Jesu wird also der Sinn – der Weg - der menschlichen Existenz als solcher aufgezeigt. Auf diese Struktur ist die Schilderung der Evangelisten reduziert.
Das gleiche gilt für Jesu Aufrufe, ihm nachzufolgen. Es sind Weckrufe, die Wertvorstellungen und Lebenswege radikal verändern. Dagegen sind sie keine Einweisung in die von den Evangelien skizzierte, höchstens drei Jahre währende konkrete Lebenspraxis Jesu, also in einen „Wanderradikalismus“, wie ihn Gerd Theißen bezeichnete, in einen Wanderradikalismus, der sich ein Leben lang, also über viele Jahrzehnte hindurch, unverändert durchhalten ließe – etwa sechzig Jahre als mittelloser Wanderprediger.
Zudem bietet Jesus kein Vorbild dafür, wie man durch sieben oder acht Jahrzehnte hindurch alle seine ganz unterschiedlichen Altersstufen gestaltet und besteht. Der Evangelist Lukas stellt ihn sogar kurz als Zwölfjährigen schon so klug und schlagfertig gegenüber den Schriftgelehrten vor, wie er als Dreißigjähriger sein wird. In diesem Alter tritt er dann wiederum nur kurz auf – höchstens drei Jahre lang - und wird dann schon umgebracht.
Im Krippenbild der Ikone umgibt das Kind schon die tiefe Finsternis der Kreuzigung; am Kreuz hängt das in die Finsternis ausgesetzte Kind.
Diese Verknappung der Darstellung des Lebens Jesu – eine recht dramatisch-tragische, existenzialistische - ermöglicht es, ihm universale Gültigkeit zu verleihen. Sie lässt ganz offen, für welche Form man sich angesichts seines Rufs zur Nachfolge berufen spürt. Jesus ist in den Evangelien das Bild des Menschen und der Grundstruktur seines Lebens schlechthin.
Der Sinn der „Selbstentäußerung“: Erziehung zum aufmerksamen Hören
Bernhard von Clairvaux hatte also an Jesus die „Selbstentäußerung Gottes“ angesprochen, von der Paulus in Philipper 2,7-8 schrieb: „Er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht...“.
Selbst-Entäußerung und Gehorsam erziehen den Menschen zum aufmerksamen Hinhören auf das, was ihm vom Wort Gottes, von seinen Mitmenschen und von seiner Umgebung gesagt wird und wozu er persönlich aufgefordert oder in Anspruch genommen wird.
Dieses Hinhorchen konzentrierte sich bei den Trappisten ganz besonders auf die Heilige Schrift, die man bei sieben täglichen Gebetszeiten jeden Tag insgesamt fünf Stunden lang hörte und sang und in Zeiten der Stille las oder sogar auswendig lernte. Bernhard hatte geschrieben: „Je mehr der Mensch über Gott nachdenkt und liest, je mehr er zu ihm betet und ihm gehorcht, desto vertrauter wird er mit ihm, und ganz allmählich leuchtet ihm Gott spürbar auf. Daraus ergibt sich, dass er immer mehr Geschmack an Gott findet“ (Von der Gottesliebe, XV,39). Folglich erfüllt sich an ihm, wozu Paulus in Philipper 2,5 aufgefordert hatte: „φρονειτε, sentite - empfindet, habt im Sinnen und Denken - das, was in Christus Jesus ist.“ Anders formuliert, es entwickelt sich ein Gespür dafür, was im Sinne Jesu ist und was nicht, oder, wie schon Papst Gregor im 7. Jahrhundert geschrieben hatte, man kann „aus Gottes Worten Gottes Herz kennen lernen.“
Schriftlesung dynamisiert und macht kritisch
Diese Kenntnis macht einen sehr kritisch sowohl sich selbst gegenüber als auch seiner Umgebung. So kann ich aus meiner Erfahrung sagen, dass einen die intensive Schriftlesung „dynamisiert“, das heißt in Fragen, Unruhe und Bewegung hält. Man wird skeptisch gegen alles selbstverständlich Etablierte – sogar gegen Traditionen, die sich im Kloster eingespielt und verselbstständigt haben.
Bernhards Anweisung für ein Leben in enger klösterlicher Gemeinschaft klingt geradezu modern:
„Sitze, wie der Prophet sagt, einsam, weil du über dich hinausgegangen bist“ (Klgl 3,28, Vulgata-Fassung). Habe keine Gemeinschaft mit der Menge, mit der großen Masse. Zieh dich aus dem, was öffentlich geschieht, zurück, zieh dich sogar vor deinen Hausgenossen zurück. Gehe abseits. Aber tu es mit dem Herzen, tu es im Geist. Denn Christus der Herr ist der Geist vor deinem Angesicht (vgl. Klgl 4,20), und er möchte, dass du zwar dem Geist, aber nicht dem Leib nach einsam bist. Allerdings kann es gelegentlich von Vorteil sein, wenn du auch dem Leib nach irgendwohin allein gehst, sofern das angebracht ist. Du entsprichst damit dem Wort Christi: ‚Wenn du beten willst, geh in deine Kammer, schließe die Tür und bete’ (Mt 6,6). Was er da gesagt hat, hat er auch selbst getan. Er hat ganze Nächte allein im Gebet verbracht. Im übrigen aber empfehle ich dir, dem Herzen und dem Geist nach die Einsamkeit zu suchen. Du bist für dich allein, wenn du nicht denkst, wie alle denken und wenn du dich nicht von dem in Beschlag nehmen lässt, was dir vor die Augen kommt; wenn du das verschmähst, worauf die Menge großen Wert legt; wenn dich abstößt, woran alle ihr Herz hängen; wenn du allem Zank aus dem Weg gehst; wenn es dir nichts ausmacht, etwas zu verlieren, und wenn du Beleidigungen schnell vergisst. Hast du nicht diese Grundhaltungen, so bist du nicht einsam, selbst wenn du dem Leibe nach ganz allein sein solltest“ (Hoheliedpr. 40,4-5).
Die Berufung zur Nachfolge Jesu ist ein einsames Erlebnis und folgenreich
Entschiedene Nachfolge Jesu zu allen Zeiten und auch heute entzündet sich also in Augenblicken und Situationen ganz persönlicher innerer Begegnung mit Jesus, des persönlichen Getroffen- und Gepacktwerdens von ihm. Diese Augenblicke und Situationen können eine Vielzahl von Formen annehmen, aber immer ist es im Kern ein einsames Erlebnis, in dem der Mensch in seiner innersten Mitte getroffen wird. Es ist „Berufung“, sagen wir im Unterschied zum „Beruf“, den wir uns selbst auswählen, womöglich nach viel Beratung und Diskussion mit anderen. Diese „Berufung“ kann einen unerwartet erwischen und dann nicht mehr loslassen. Die Bibel ist von Anfang bis Ende voller Geschichten über solche überraschende Berufungen, die ich im einzelnen gar nicht aufzuzählen brauche. Alle in der Bibel erzählten Gotteserfahrungen sind solche Berufungserfahrungen, die Menschen auf neue, anspruchsvolle Wege schicken. Vielleicht wehrt man sich zunächst dagegen oder erhebt Einwände wie etwa Mose und Jeremia oder man versucht sogar davor davonzulaufen wie Jona.
Die Berufung bestimmter Menschen hat ganze Bewegungen und kulturelle Entwicklungen ausgelöst. So wurde zum Beispiel im 3. Jahrhundert Antonios der Große und zu Anfang des 13. Jahrhunderts dann wieder Franz von Assisi ziemlich jäh ins Herz getroffen von der Aufforderung Jesu in Matthäus 19,21: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach.“ Antonios wurde zum Stammvater einer langen morgenländischen Mönchstradition, die zweihundert Jahre später Benedikt ins Abendland transponierte. Franziskus wurde zum Gründer einer Ordensgemeinschaft, die im kirchlichen Leben ein Ideal der Armut und Einfachheit wach hielt, das noch heute als kritisches Element nachwirkt und die Menschen inspiriert.
Nachfolge Jesu ist ein dynamischer Prozess, kein „Stand“
Diese Beispiele sind sehr markant und plakativ. Als ich mich in die frühe Tradition vertiefte, beschäftigte ich mich unter anderem ausführlich mit den Lebensbeschreibungen des Mönchsvater Antonius aus der Feder des Bischofs Athanasius von Alexandrien vom 4. Jahrhundert und die Vita des heiligen Benedikt von Papst Gregor dem Großen. Was wir dabei auffiel, war, dass sie das Leben dieser exemplarischen Nachfolger Jesu nicht als statische Einrichtung einer bestimmten Lebensform schildern – wozu die klösterlichen Einrichtungen und verschiedenen Formen des Ordenslebens gerieten -, sondern als einen dynamischen Prozess durch zahlreiche Entwicklungsstufen und Lebensweisen hindurch. Es beginnt mit einer Zeit völliger Zurückgezogenheit. Das ist der gerade mit dem Zitat aus Bernhard vorgestellte Aspekt, der auch bei der Nachfolge Jesu heute eine wichtige Rolle spielen wird. Von Antonius wird aus seiner Anfangszeit ein langes und intensives Ringen mit Dämonen überliefert, also mit leibhaftig aufgefassten Bildern schlechter, ja böser Anfechtungen und Krisen (auch von Jesus wird ja berichtet, er sei vom Teufel versucht worden); bei Benedikt wird das schwächer angedeutet. Die mythischen Bilder, in die das gefasst wurde, bezeichnen die Auslotung der eigenen inneren Tiefen und Abgründe. Von daher kann man geradezu sagen, dass die Wüstenväter des 4. und 5. Jahrhunderts die Urväter der Bemühens um die Ergründung der Inhalte der Psyche des Menschen waren. Allerdings ging es ihnen nicht um psychologische Erkenntnisse, sondern um die „Herzenserkenntnis“, die „Kardiognosie“.
Nach dieser Phase öffnete sich das Leben von Antonius und Benedikt und Unzähligen ihrer Nachfolger immer weiter und strahlte in die Welt aus: um die Eremiten sammelten sich Brüder, mit denen sie in Gemeinschaft lebten; sie gründeten Klöster; sie widmeten sich den Armen oder unterwiesen andere im Glauben. Antonius begab sich zeitweise nach Alexandrien, um den verfolgten Christen beizustehen und den Arianern die Stirn zu bieten; schließlich schrieb er sogar einen Ermahnungsbrief an den Kaiser. Von Benedikt wird Ähnliches berichtet. Er empfing schließlich den Gotenkönig Totila und redete diesem ins Gewissen, weil er Italien verheerte. Und immer wieder kehrten diese vielseitig Engagierten wieder in ihre Abgeschiedenheit zurück.
Im Leben des Menschen gibt es eine Abfolge von Berufungs-Impulsen und Reifungsprozessen
Damit wurde in Form von Erzählungen die Wahrheit angedeutet, dass die Nachfolge Jesu einen Weg durch viele Wechselfälle, Wandlungen und Stadien hindurch initiiert. Es gibt nicht nur eine Einstiegs-Berufungserfahrung, sondern immer wieder neue Berufungsimpulse. Vielleicht lässt sich das sogar im Wort Jesu an Petrus gegen Ende des Johannesevangeliums angedeutet sehen: „Wenn du alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst“ (Joh 21,18) - oder in eine Richtung, von der du keine Ahnung hattest. Der Weg der Nachfolge hält immer neue Überraschungen und Wendungen bereit. Immer kommt es darauf an, den Anruf der Stunde zu hören.
In der kirchlichen Tradition hat man das viele Jahrhunderte hindurch weithin verkannt. Analog zu den gesellschaftlichen Verhältnissen hat man auch für die Nachfolge Jesu eine Reihe von fixen, mit einer spezifischen Lebensordnung und Ausrichtung klar definierten Ständen eingerichtet. So wurde zum Beispiel die bewegte Kurve des Lebensverlaufs der gerade kurz zitierten Mönchsväter sozusagen auf ihren arithmetischen Mittelwert eingependelt und es wurde eine Standardform mönchischen Daseins eingerichtet, in der ständig und unabänderlich tagtäglich für jedes Element ein gewisser Raum – nicht zu wenig und nicht zu viel – vorgesehen war: ein Stück Alleinsein, ein Stück Gemeinschaft, ein Stück Arbeit, ein Stück Muße. Jeder Tag bot nun von allem etwas, Extreme wurden vermieden – um den Preis, dass der Einzelne sein Leben lang auf das Normverhalten eines eifrigen Novizen festgelegt wurde oder dass der „kontemplative“ Charakter einer Gemeinschaft danach bemessen wurde, wie gut sie ihre Mitglieder in der Klausur unter Verschluss hielt und wie intensiv ihre Tages- und Gebetsordnung war. Machte sich im Leben Einzelner der genannte Reifungs- und Entwicklungsprozess bemerkbar, so konnten sie damit in größte Schwierigkeiten geraten: In ihren eigenen Augen und in denjenigen ihrer Umgebung sah das wie eine „Krise“ aus; sie liefen Gefahr, kein „richtiges“, „normales“ Mitglied ihrer Gemeinschaft mehr zu bleiben, also sich nicht mehr an den Rahmen der genau und starr vorgegebenen Lebensform zu halten.
Widersprüchlichkeiten bei Formen der institutionalisierten Nachfolge Jesu
Eine weitere Folge dieser Institutionalisierung der Nachfolge Jesu war, dass sie paradoxerweise das Risiko, ungeschützt und offen den Weg der Armut und des Gehorsams gegenüber dem Anruf der Stunde zu gehen, gänzlich aufhob: Wer in einen Orden eintritt und darin bleibt, befindet sich damit auf Lebenszeit im Stand eines Pensionärs, der sich über seinen Lebensunterhalt und seine Altersversorgung überhaupt nicht mehr den Kopf zu zerbrechen braucht. Der Orden oder die Mutter Kirche werden ihn immer mit dem Notwendigen versorgen. Das setzt ihn auf beneidenswerte Weise frei für alle Arten von nicht-lukrativen Tätigkeiten und Einsätzen.
Ich empfand darin allerdings auch eine große Inkonsequenz. Nach anderthalb Jahrzehnten im Kloster wurde ich in der Buchhaltung beschäftigt und fand die Möglichkeit, etwas Statistik zu betreiben. Ich stellte fest, dass wir tatsächlich auf extreme Weise unser Armutsgelübde erfüllten: Pro Kopf und Tag beliefen sich die Kosten für Nahrung, Kleidung und Gesundheit des einzelnen Mönchs auf rund 2 DM. Aber rechnete man den gesamten Unterhalt unserer Klosteranlage auf die Kopfzahl der Mönche um, so ergab das für jeden ungefähr den Aufwand für eine vierköpfige Familie.
In den Jahren meines Klostereintritts wurde die einzige deutsche Kartause aus der Gegend von Düsseldorf nach Süddeutschland verlegt, wo man für die Mönche eine komplettes neues Kloster gemäß ihren Idealen der Armut und Einfachheit baute. Der Bau kostete rund 8 Millionen DM. Das hieß, für jeden der 40 Mönche wurden 200 000 DM investiert. Ich sagte 1980 zu meinem Abt, mir komme es vor, als hätten wir eine Schlossanlage zur Verfügung und lebten im Schlossgarten auf kargem Camping-Niveau. Warum könnten wir nicht aus der Anlage ausziehen und in einer schlichteren Umgebung genauso auf diesem Niveau leben?
Meine eigenen Erfahrungen
Wenige Jahre später habe ich das auf eigene Verantwortung gemacht. Ich habe das seit sieben Jahren leer stehende Pfarrhaus eine 1900-Seelen-Dorfes bezogen, mich um die Gemeinde gekümmert und ein Gehalt abgelehnt – was für das Bischöfliche Ordinariat das größte Problem war. Alles, was ich brauchte, bekam ich von den Dorfbewohnern geschenkt; zum Mittagessen wurde ich täglich irgendwo eingeladen. Im Lauf der Zeit kam ich in fast alle 600 Häuser des Dorfes, denn ich war täglich zu Besuchen unterwegs und verschenkte meine ganze Zeit und Energie an die Menschen. Die exinanitio, das „Leerwerden von sich selbst“ hatte ich mir als „mich gratis verschenken“ übersetzt und zum Vorsatz gemacht. Nach einiger Zeit luden mich die Evangelischen – da gab es rund 200 – und die Muslime – rund 100 – genauso ein oder baten mich ins Haus, wenn ich gerade vorbeikam. Ein muslimischer Schüler kam sogar zu mir zum Beichten, weil seine Mitschüler in der Grundschule ihm vorgeschwärmt hatten, wie schön ihre Erstbeichte vor der Erstkommunion bei mir gewesen sei. Er hatte etwas ausgefressen, was ihn belastete. Ich versicherte ihm, wenn er das von Herzen bereue und sich vornehme, so etwas nicht mehr zu tun, werde ihm Allah, der Allerbarmer, sicher vergeben und er zog getröstet ab.
Ich kann aus dieser knapp zehnjährigen Erfahrung berichten, dass eine solche Verfügbarkeit für andere in evangelischer Armut fast alle Herzen und Türen öffnet.
Umgekehrt kam es dann zur Krise von außen. Dass in der Zeit zunehmenden Priestermangels ein kleines Dorf derart seelsorglich im Luxus lebte und den Nachbarpfarreien Gottesdienstbesucher, Taufen und Hochzeiten abzog, weckte zunehmend Unmut, so dass ich schließlich aufhören musste. Es ergab sich, dass ich mich auf dem Weg einer Heirat jäh aus allen kirchlichen Strukturen und Umständen hinauskatapultieren konnte.
Einen Pferdefuß dieser Geschichte meines Nachfolge-Versuchs muss ich realistischer Weise noch erwähnen: Nach dreißig Jahren Leben ohne Geld – zwanzig im Kloster, zehn im Dorf – bekommt man später mit seinem Rentenbescheid gleich das Antragsformular auf Sozialhilfe mitgeschickt. Das habe ich bis heute nicht ausgefüllt. Die Glaubens-Wette hält an, ob es funktioniert, dass, wenn man alles verschenkt, man auch immer genügend zum Leben bekommen wird. Bislang kann ich die Folgen meines Eifers für die Nachfolge Jesu noch ganz gut abarbeiten und bereue sie nicht.
Grundsätzlich ist das natürlich ein Beispiel dafür, dass, wie bereits gesagt, bestimmte Formen der Nachfolge Jesu eines gesellschaftlichen Kontextes bedürfen, der sie ermöglicht.
Wandel der Ausdrucksformen der Nachfolge in den verschiedenen Lebensstadien
Ich habe Nachfolge Jesu erlebt als Weg durch sehr unterschiedliche Lebensumstände. Deswegen haben mich die Einsichten der heutigen Alters- und Entwicklungsforschung interessiert. Es hat sich nämlich gezeigt, dass es im Lauf der einzelnen Lebensphasen jedes Menschen immer wieder Verlagerungen und Wandlungen des religiösen Interesses und Wahrnehmens gibt – grob genommen ungefähr sieben. So ist zum Beispiel die früheste, noch völlig unreflektierte religiöse Wahrnehmung diejenige des Kleinkinds, die es auf der Ebene seines vorsprachlichen Fühlens macht. Wenn es wahrnimmt, dass es akzeptiert und gewollt ist, kann das sozusagen die erste „Gnaden“-Erfahrung des Dasein-Dürfens und willkommen Seins ohne jede Leistung sein. Sie wirkt sich auf sein Maß an Grundvertrauen und Empfinden des Geborgenseins aus – womöglich sein Leben lang. Was ihm die liebevolle Blick-Zuwendung der Eltern bedeutet, findet sich übrigens aufgegriffen im sogenannten Aarons-Segen in Numeri (4 Mose) 6,24-26: „Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Heil.“
Es ist hier nicht der Ort, alle diese Stufen genauer vorzustellen. Sie umfassen grob gesprochen Phasen des Gesetzesdenkens, der Innenschau, der rationalen Aufklärung, der Erschütterung des Selbstvertrauens und aller Selbstverständlichkeiten sowie des Loslassens, Vergebens und der Versöhnung. In jeder Phase kann den Menschen der Ruf zur Nachfolge Jesu treffen, und jedes Mal nimmt er eine entsprechend andere Färbung an. Was in einer bestimmten Lebensphase wichtig und mitreißend sein kann, ist es in bestimmten anderen Phasen nicht mehr. Ich habe eingangs als Beispiel die Lebensphase genannt, in der in unseren Kirchen die Konfirmation oder Firmung üblich ist. Wenn die jungen Menschen voll damit beschäftigt sind, sich selbst und die anderen zu entdecken, kommt der Anruf, alles zu verlassen und Jesus nachzufolgen, viel zu früh. Sie haben noch zu wenig, was sie verlassen müssten, könnten oder dürften. In der Krise der Lebensmitte zum Beispiel ist die Situation ganz anders: Da kann einem alles bisher Aufgebaute fragwürdig werden und ein entsprechender Anruf Jesu könnte genau das sein, was einem Menschen ganz neue Horizonte aufreißt.
In der spirituellen Tradition des Hinduismus gibt es eine entsprechende Tradition über vier Lebensalter der inneren Sensibilität und Entwicklung: Die Alterstufen des Schülers, des Haushalters, des Waldeinsiedlers und des Bettelmönchs. Das beschreibt die Kurve vom Lernen über das aktive Weltgestalten, das nach innen Gehen und schließlich das Loslassen von allem.
Je nachdem, in welcher Lebensphase man ist, kann die Nachfolge einen recht spezifischen Charakter annehmen. Im übrigen sind das grobe Raster, keine lebenszeitlich exakt festzulegende Schemata. Bei manchen können sich die Phasen stark verschieben. Aber es ist gut, sich ihrer bewusst zu sein.
Aus all dem ergibt sich, dass Menschen den Ruf zur Nachfolge Jesu zwar in vielen Fällen zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz deutlich vernehmen. Sie bekommen sehr oft daraus den Impuls und die Energie, konkrete Schritte zu tun und ihr Leben und ihre äußeren Umstände radikal zu verändern. Aber diese Initialzündung genügt nicht. Eine anhaltende Nachfolge Jesu setzt das ständige innere Gespräch mit Jesus voraus, vor allem anhand der Heiligen Schrift, die jedem im Lauf der Jahre immer wieder neue Aspekte, Dimensionen und Impulse liefert. Dieser Bewegungs-Aspekt des Begriffs „Nachfolge Jesu“ ist das Wesentliche; nicht für immer sind es die konkreten Schritte und Verhaltensweisen, zu denen man anfangs oder irgendwann angeregt wurde und auf die man sich vielleicht ein für allemal fixieren möchte – oder fixiert wird. Nachfolge Jesu ist ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang; man weiß nicht, wohin man schließlich gerät. Wenn es gut geht, empfindet man, dass dieses Abenteuer aus der Enge in die Weite führt, aus der Ängstlichkeit in die Zuversicht, aus dem Bitten ins Danken.
Nachfolge Jesu noch einmal anders gesehen
Im Verlauf meiner bisherigen Ausführungen habe ich unter „Nachfolge Jesu“ immer einen Anspruch an uns, ein Programm, einen eigenen Einsatz verstanden. Mir liegt daran, diesen Ansatz schließlich noch auf den Kopf zu stellen. Das habe ich andeutungsweise bereits ganz am Anfang mit meinem ersten Satz getan: „Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sind alle Getauften.“
Das ist der erschreckende und zugleich tröstliche Aspekt der Nachfolge Jesu: Wir alle sind hineingenommen in sein Leben, Sterben und Auferstehen. In seiner Inkarnation in Jesus Christus hat Gott sozusagen die Nachfolge des Menschen angetreten und ist diesen profanen Weg, diesen Passionsweg, der unvermeidlich ins Sterben führt, mit uns gegangen und hat ihn aufgebrochen in die Auferstehung hinein.
Worauf alles ankommt, ist folglich nicht, ob und wie ich Jesus nachfolge, sondern dass er mir nachfolgt, nachgeht, mich nicht loslässt, mich nicht fallen lässt, sondern mich zum Gefährten seines Schicksals und Durchbruchs in die Erlösung macht. Wenn ich mir in allem, was mir begegnet und zustößt, sagen kann: Darin bin ich nicht allein, sondern damit bin ich in der Nachfolge Jesu, und ich darf hoffen und glauben, dass mir am Ende meiner ganz individuellen Passionsgeschichte genau das gleiche blüht wie ihm, nämlich das Osterfest. Dann eröffnet sich mir ein Sinn, der mir Trost schenkt und mich trägt und mir die paradoxe Erfahrung eröffnet, die in der alten Pfingstsequenz so knapp und treffend formuliert ist: „In der Unrast schenkst du Ruh, hauchst in Hitze Kühlung zu, spendest Trost in Leid und Tod.“ Martin Luther hat die gleiche Erfahrung in die Worte gefasst: „Ruhe ist in Unruhe. Fried in Unfried. Freud in Betrübnis. Geduld in Ungeduld.“ Das ist der hilfreichste und wichtigste Ertrag der Nachfolge Jesu, bei der man gar nicht genau ausmachen kann, wer eigentlich wem nachfolgt: Jesus mir oder ich Jesus.
(c) 2018 Bernardin Schellenberger
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