Übers Übersetzen
Den folgenden Text habe ich für die Zeitschrift Bibel heute des Verlags Katholisches Bibelwerk Stuttgart verfasst (Nr. 193/1, Stuttgart 2013,4-6):
Seit 1992 ist das Übersetzen von Büchern mein Hauptberuf. Meistens geht es um Themen der christlichen Theologie, des Judentums, der fernöstlichen Religionen und der Spiritualität und Kulturgeschichte. Im Sommer 2012 habe ich mein 150. Buch übersetzt. Das ergibt pro Jahr durchschnittlich sieben Bücher aus dem Englischen, Französischen und (weniger oft) Lateinischen ins Deutsche. Es werden schätzungsweise dreißigtausend Buchseiten sein, die ich eigenhändig geschrieben habe. Diese Zahlen mögen zeigen, wie sehr im Lauf dieser zwanzig Jahre das Übersetzen mein Lebenselement geworden ist und mich ungemein bereichert.
Ein mobiler Arbeitsplatz und strenge Disziplin
Daneben habe ich auch noch rund 35 eigene Bücher geschrieben. Das ist langwieriger und strapaziöser als das Übersetzen, denn man muss auf die richtigen Inspirationen warten, um Formulierungen ringen, streichen, ergänzen usw. Übersetzen dagegen ist wie Pulloverstricken: Ich kann mich jederzeit hinsetzen und am Herüberholen eines vollständig vorliegenden Textes ins Deutsche weitermachen. Zudem ist mein Arbeitsplatz grundsätzlich vollkommen mobil. Einmal bin ich einige Zeit auf einem Frachtschiff als einziger Passagier mitgefahren und habe dabei ein ganzes Buch übersetzt – war also voll berufstätig und dennoch auf Weltreise. Mit Vorliebe übersetze ich Bücher in einer einsamen Berghütte hoch oben in den Alpen.
Dabei muss ich kalkulieren, wie lange ich bis zum Abgabetermin brauche und anschließend dann mit eiserner Disziplin das voraussichtlich erforderliche tägliche Seiten- oder Stundenmaß einhalten. Das bietet zum Lohn den Vorteil, dass ich nicht zum Workaholic werde, also – aus Langeweile oder Eifer - Tag und Nacht arbeite, bis ein Buch geschafft ist. Habe ich mein kalkuliertes Tagesmaß erfüllt, so ist Feierabend (was natürlich ebenfalls Disziplin erfordert). Da ich extremer Frühaufsteher bin, hatte ich Jahre hindurch oft bereits um zehn Uhr vormittags Feierabend.
Mich voll einbringen und dennoch ganz heraushalten
Als Übersetzer brauche ich die paradoxe Gabe, mein Genie einzubringen und mich zugleich völlig zurückzunehmen: Ich soll ausländischen Autoren meine Sprache leihen, damit sie deutschen Lesern möglichst gut das sagen können, was sie ihnen mitteilen wollen. Ich muss mir also alle Mühe geben, aber zugleich mich selbst gar nicht bemerkbar machen; bin also eine Art „Kanalarbeiter“ im Untergrund, den man überhaupt nicht sieht, aber auf den alles ankommt. Dass Übersetzer zumindest auf Buch-Innentiteln genannt werden müssen, weil sie echte kreative Arbeit leisten, ist noch gar nicht so lange anerkannt und gesetzlich vorgeschrieben; aber meistens ist es ziemlich klein gedruckt.
Die Fremdsprachen braucht ein Übersetzer gar nicht perfekt zu können; dafür gibt es hilfreiche Lexika. Sie halten ihn allerdings desto länger auf, je stärker er auf sie angewiesen ist. Worauf es vor allem ankommt, ist seine Fähigkeit, genau die Gedanken und Aussagen des Autors zu erfassen und sie dann in ein möglichst gutes Deutsch zu bringen. Deshalb muss er in seiner Muttersprache gewandt sein und sich regelmäßig in ihr bewegen. Wer deutsche Verwandte in den USA hat, kennt das Phänomen, dass diese nach einigen Jahrzehnten zunehmend ein Deutsch mit amerikanischem Satzbau sprechen, so dass zum Beispiel auch langjährige Auslandsdeutsche nicht mehr als Übersetzer ins Deutsche geeignet sind, selbst wenn sie beide Sprachen gut kennen mögen. Professionelle Übersetzer übersetzen nur in ihre Muttersprache, nie in eine Fremdsprache, denn diese idiomatisch vollkommen zu beherrschen, ist fast unmöglich.
Eine kreative Arbeit
Ich sitze also am Computer, habe das englische oder französische Buch vor mir, lese einen Satz und schreibe dann mit einem deutschen Satz genau das nieder, was der Autor darin sagt, und formuliere das möglichst auch auf die Art, wie er es sagt. Das ist etwas anderes als ein mechanisches Übertragen, wie es inzwischen Übersetzungs-Computer recht mangelhaft fertig bringen. Denn ich muss nicht nur genau verstehen, was der Autor sagt, sondern zugleich überlegen: Wie sagt man das in richtigem, gutem Deutsch?
Die amerikanisch-englische Sprache ist weithin relativ einfach. Es kann sein, dass bei der Wiedergabe eines Dialogs zehn Mal hintereinander das Verb „said“ („sagte er/sie“) vorkommt, während man im Deutschen solche Wiederholungen vermeidet und ein Dutzend anderer Verben zur Verfügung hat: „entgegnete“, „warf ein“, „bestätigte“, „behauptete“ usw. Ich meine die Tendenz zur Reduzierung auf Satzstrukturen zu verspüren, die der Computer „versteht“: Kurze Sätze mit Subjekt, Prädikat und Adverb/Objekt: „Er war niedergeschlagen. Seine Frau hatte ihn verlassen. Er hielt es in der Wohnung nicht mehr aus.“ Und endlos so weiter. Dieser Verarmung versuche ich entgegenzusteuern und schreibe dann vielleicht: „Er war niedergeschlagen, weil seine Frau ihn verlassen hatte und hielt es deshalb in der leeren Wohnung nicht mehr aus.“
Im Unterschied dazu ist das Französische gewöhnlich komplizierter und pathetischer und ich muss seine Satzstrukturen eher vereinfachen.
Beim ersten Durchgang – also der ersten Niederschrift meiner Übersetzung – bleibe ich unwillkürlich immer noch vom Satzbau meiner Vorlage beeinflusst. Ich nenne diesen ersten Text deshalb meine „Rohübersetzung“. Ist diese fertig, lege ich die Vorlage ganz beiseite und arbeite meinen gesamten Text noch einmal auf einen wirklich deutschen Stil hin durch. Dabei erfahren viele Sätze noch einmal einen starken Umbau.
Am besten geht das, wenn ich die Sätze innerlich spreche oder sie sogar vor mich hinmurmle. Dann spüre ich am deutlichsten: So stimmt es noch nicht oder: so stimmt es jetzt.
Übersetzen ist eine Art Meditation
Das Stichwort „murmeln“ erschließt eine weitere, ganz wichtige Dimension des Übersetzens. In der lateinischen Bibel, der „Vulgata“, taucht dieses Verb 33mal auf und heißt meditari. So steht es zum Beispiel in Psalm 37,30: „Der Mund des Gerechten murmelt Worte der Weisheit“ und in Psalm 1,2 wird der Mensch selig gepriesen, der „Tag und Nacht das Gesetz des Herrn murmelt“. Das „Murmeln“, meditari der Bibelworte war im Judentum und im frühen christlichen Mönchtum die wichtigste Form der Meditation.
Nun murmle ich beim Übersetzen meistens keine direkten Bibelworte, aber ich erlebe das tägliche lange Bewegen von Worten tatsächlich als eine Form der Meditation – zumindest in der Weise, dass die Worte mich stundenlang vollkommen absorbieren und ich in der reinen Gegenwart des Textes und seiner Formulierung verweile. In den Stunden des Übersetzens vergesse ich folglich alles andere. Was mich belastet und verspannt hat, setzt aus. Ich weile ganz im Text und seiner Thematik und wundere mich anschließend immer wieder, wie die Zeit vergangen ist, während der ich in ihm und damit „anderswo“ war. Einige gewaltige Brüche und Krisen meines Lebens habe ich nicht zuletzt deshalb gut bestanden, weil mir jeweils das Buch, das ich zu der Zeit übersetzte, wie ein Geländer durch alle Höhen und Tiefen Halt gab. Das hatte oft gar nicht viel mit dem konkreten Inhalt des Buchs zu tun, an dem ich gerade arbeitete, sondern einfach nur mit der kreativen Hingabe an die Sprache und dem bloßen Gegenwärtigsein in ihr.
Übersetzen bildet ständig weiter
Aber auch der Inhalt der Bücher prägt mich als ihren Übersetzer. Meine Beschäftigung mit dem jeweiligen Buch besteht ja nicht nur darin, dass ich es lese, wie man sonst ein Buch liest, sondern ich muss jeden Gedanken mit- und nachdenken und selbst kreativ neu formulieren und niederschreiben. Dadurch wird das „Murmeln“ zum inneren Aneignen des Textes oder zur lebhaften Auseinandersetzung mit ihm – viel intensiver, als wenn man ein Buch nur mit den Augen überliest. Deshalb murmelten die Alten ihre Bibeltexte – bewegten sie mit ihrer Zunge - und absorbierten sie auf diese Weise intensiv. In unserer Informationsgesellschaft dagegen verlieren die mentalen Inhalte immer mehr jede materielle, physische Basis, werden zu flimmernden, auf der Oberfläche vorbeihuschenden Zeichen auf Bildschirmen. Dagegen prägt sich ein Text, den man mitdenkt und handschriftlich niederschreibt, der Psyche tiefer ein als einer, den man sich bloß fotokopiert oder auf dem Bildschirm abruft.
Es gibt Passagen in den Büchern, die ich übersetze, in denen Vorstellungen oder Ideen vertreten werden, die ich unmöglich finde, aber getreu übersetzen muss. Das geht nicht ohne intensiven inneren Konflikt damit und Abgrenzung davon, selbst wenn ich das im Text natürlich nicht äußern darf. Auf jeden Fall schult es mich in meiner eigenen Orientierung.
Meistens aber finde ich beim Übersetzen vieles, was mich positiv weiterbildet und schult. Das hat wichtigen Stoff für etliche meiner eigenen Bücher geliefert. So ist mir das Übersetzen, von dem ich lebe, nicht nur zum Broterwerb, sondern zum Lebenselixier geworden.