Bernardin Schellenberger
Bernhard von Clairvaux als Vertreter des Zeitalters der Minnesänger
(Referat am 13.11.2013 in Münster)
Bernhards Eintritt im Jahr 1112 in das neue, strenge Kloster Cîteaux war spektakulär und einmalig in der Mönchsgeschichte: Der Hochbegabte hatte mit seiner stürmischen Begeisterung für die Liebe zu Gott und ein Leben nur für ihn dreißig junge Verwandte und Freunde, Adlige und Ritter, angesteckt, die mit ihm zusammen eintraten.
Nicht nur die Zahl war bemerkenswert, sondern auch der Schub an Erwachsenen. Denn in den bisherigen Klöstern hatte sich der Nachwuchs zum großen Teil aus den Zöglingen rekrutiert, die bereits als Kinder in die Klosterschulen gegeben worden waren. In Cîteaux gab es eine solche Schule überhaupt nicht.
Die Erwachsenen, die dort zum Teil mitten aus dem Leben, aus Ehe und Beruf eintraten, brachten die Erfahrungswelt, Mentalität und Interessen ihrer Zeit mit.
In einer Anekdote aus dem 12. Jahrhundert wird erzählt, dass während der Predigt eines Abtes im rheinländischen Zisterzienserkloster Kloster Heisterbach ein Teil der Mönche eingeschlummert war und einige sogar zu schnarchen anfingen. Da habe der Abt jäh das Thema gewechselt und gesagt: „Hört, meine Brüder, jetzt erzähle ich euch etwas von einem König namens Artus.“ Bei diesem Stichwort seien alle Köpfe jäh interessiert hochgefahren.
König Artus spielte in den damaligen Romanen und Romanzen eine wichtige Rolle. Er war das legendäre Oberhaupt der Ritter von der Tafelrunde, die für das Gute kämpften, sich der Minne verschrieben hatten und auf der Suche nach dem geheimnisvollen Gral waren. Der Name von Artus versprach eine spannende, inspirierende Geschichte.
Der Abt hatte folglich mit der Nennung seines Namens eines der beiden wichtigsten Themen angesprochen, die bei den Männern allgemeines Interesse weckten – wie heute vielleicht der Fußball: das Thema des Kriegführens und Kämpfens bei Fehden und Turnieren und dasjenige der Liebe zwischen Mann und Frau.
Abt Bernhard in Clairvaux verstand es, faszinierender als sein Heisterbacher Amtskollege zu predigen. Das nicht zuletzt deshalb, weil er es fertig brachte, seine spirituellen Unterweisungen auf geniale Weise in die Sprache und Bilderwelt der damaligen Liebesliteratur zu kleiden.
Auch das andere große Thema, das des ritterlichen Kampfes gegen das Böse im eigenen Herzen und die Verteidigung der Seelenburg gegen die Angriffe der Feinde griff er meisterhaft auf, ganz zu schweigen von seinen Kreuzzugspredigten, mit denen er seinen Ruf weithin verdorben hat.
Um das erstere Thema genauer zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen.
Bis kurz vor die Zeit Bernhards hatten vor allem in Adelskreisen, aber auch bei den Bauern und Bürgern auf eine uns heute unvorstellbare Weise Ehe und erotische Liebe kaum etwas miteinander zu tun. Die meisten wurden bereits als Kinder verheiratet, und dieses Verheiraten war ein ökonomisches, juristisches Geschäft. Für die Kinder und Jugendlichen, die nach scharfem Kalkül kopuliert und zur Lebensgemeinschaft zusammengeführt wurden - es ging dabei um das möglichst günstige Zusammenlegen von Beziehungen, Macht und Besitz -, fiel die poetischste Phase der Liebe zwischen Mann und Frau aus: die des Sich-Entdeckens, des Sich-Verliebens und der Sehnsucht nacheinander. Verschärft wurde diese Situation durch die rigide Moral einer Kirche, die die erotischen und sexuellen Freuden als sündhafte Lust gebannt und die sexuelle Vereinigung nur zum Zweck der Zeugung von Nachkommenschaft erlaubt hatte, andererseits jedoch bis ins 20. Jahrhundert in ihrem Kirchenrecht dem Ehepartner das ius in corpus, „juristische Recht auf den Körper“ des Partners zusprach.
Zu Anfang des 12. Jahrhunderts hatte man im Abendland also gerade die so genannte „romantische Liebe“ zwischen Mann und Frau entdeckt. Die Menschen versuchten, die starren Regeln zu durchbrechen und der spontanen, affektiven Liebe zu ihrem Recht zu verhelfen. Weil die Gesellschaftsordnung samt ihren ehernen Regeln der Verheiratung noch auf Jahrhunderte nicht zu durchbrechen war (in manchen Gegenden wurden ja noch bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts die Ehen zwischen den Eltern des Paares ausgehandelt), verkündete damals der Theoretiker der neuen Liebeslehre, Andreas Capellanus, als oberste Regel: „Der Grund, verheiratet zu sein, ist keine stichhaltige Entschuldigung, nicht zu lieben.“
Diese Botschaft trugen die Minnesänger und Troubadoure singend in die Welt hinaus. Allerdings zog damit noch lange nicht die Liebe in die Ehen ein, sondern sie suchte sich andere Wege. Weitere Regelpunkte des Andreas Capellanus lauten, ein Ritter dürfe Bauersfrauen und Dienstmägde bedenkenlos und wenn es sein müsse mit Gewalt und ohne jede Reue missbrauchen und, so wörtlich: „Bei Männern sind Exzesse in Liebe oder Lust zu dulden, bei Frauen aber als Vergehen zu verdammen, denn sie sind der Ruin ihres Rufes.“
Ich habe eine erschütternde Äußerung aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gefunden. Da vertraute die sterbende Herzogin von Braunschweig ihrem Beichtvater an, sie sehne sich endlich nach der Liebe Gottes im Himmel, denn – so wörtlich: „Ich habe hier in diesem Schloss wie eine Klausnerin in einer Zelle gelebt. Trotz meines Wohlstands habe ich nie wirkliche Annehmlichkeiten und Freuden genossen, denn ich musste mich allezeit anstrengen, meinen Dienern und Hofdamen ein glückliches Gesicht zu zeigen. Wie Ihr wisst, habe ich einen groben Ehemann gehabt, der sich kaum um mich gekümmert und keine Zuneigung zu mir gehabt hat.“
Der Stand der Ehe war also mindestens ein Jahrtausend lang für die Liebe eine erstickende Zwangsjacke, vor allem für die Frauen.
Und umgekehrt wurde ja weithin die Gottesbeziehung nach diesem Modell vorgestellt: als ein starrer, genauso erstickender Pflichtenkatalog.
Das muss man deutlich im Bewusstsein haben, um ganz zu erfassen, was für eine revolutionäre Liebeslehre Bernhard von seiner Gotteserfahrung her propagierte; welche gesellschaftliche Sprengkraft sie in sich barg; und wie sie ins Herz der Menschen traf, die damals eine neue Dimension der Liebe entdeckten.
Sie verselbstständigten die pubertäre, erotische Faszination – die, wie beschrieben, als Vorstadium der Ehe auszufallen pflegte – und machten daraus eine Kunst, die gar nicht ernsthaft auf Begegnung oder gar Bindung abzielte. Der Ritter oder Troubadour erkor sich die Frau eines anderen, und die verheiratete Dame spielte dieses Spiel mit einem anderen als ihrem Ehemann, gewöhnlich hinter seinem Rücken.
Zur Zeit der so genannten „hohen Minne“ priesen die Minnesänger eine in der Schwebe gehaltene, unerfüllte Liebe, und sie sahen sie als Quelle aller poetischen Inspirationen und aller hohen Tugenden an, als Ansporn zu den größten Entbehrungen und Heldentaten. Die verehrten, angehimmelten, besungenen Herrinnen dachten sich immer neue „Prüfungen“ der Liebe ihrer Verehrer aus: Fahrten, Duelle, das Herbeibringen mühsam zu erlangender Kostbarkeiten, bis sie endlich ihrem Liebhaber einen Blick, eine freundliche Geste, ein Pfand, einen Kuss oder mehr gewährten.
Das trug zweifellos zu einer Verfeinerung der Kultur zwischen Mann und Frau bei, denn, wie es bei Walther von der Vogelweide heißt, „hohe Minne spornt an und bewirkt, dass der Sinn sich zu hohem Wert aufschwingt.“ Aber es hatte seine eigene Problematik. Im Ideal war der „fin’amor“, die „kultivierte Liebe“ ein „amor de lonh“, eine „Liebe aus der Ferne“, die aus „senung“ (so das alte Wort für „Sehnsucht“) bestand und blieb. Im Augenblick der eventuellen Vereinigung beider würde die Liebe sogar sterben, wurde in der Romanze von „Tristan und Isolde“ eindrucksvoll vor Augen geführt.
Denis de Rougemont führte 1939 in seinem Buch „Die Liebe und das Abendland“ ausführlich vor, wie unsere Liebestradition bis heute unter dem Bann dieses Tristan-und-Isolde-Mythos steht. Noch Max Frisch vertrat, im Augenblick der Eheschließung sinke die spontane, kreative Liebe unvermeidlich ins Grab. Eine überzeugende Kultur und Kunst der Liebe nach dem happy end, also wenn zwei sich glücklich gefunden haben, wurde nie recht entwickelt.
Die „hohe Minne“ verkam gegen Ende des 12. Jahrhunderts immer mehr zur „niederen Minne“, zur Kunst des Verführens und Ehebrechens. Das lag an der Künstlichkeit und Unrealistik dieses hochgesteckten Ideals „reiner“ Erotik.
Alle großen deutschen Meister der höfischen Liebeslyrik kehrten sich deshalb früher oder später von ihr ab. Hartmann von Aue sprach vom „ungewissen Wahne“, der ihn allzu lange lasse „Trostes ahne“. Er, und noch entschiedener Wolfram von Eschenbach, priesen schließlich die eheliche Liebe; für einen rechten Mann müsse seine Ehefrau seine wirkliche „süße Freundin“ sein.
Die andere Richtung der Abkehr vom künstlichen Ideal der Troubadoure war der Weg ins Kloster. Von den 409 namentlich bekannten Minnesängern aus ganz Westeuropa in der Zeit zwischen 1100 und 1280 beschloss jeder Dritte sein Leben als Mönch. Inzwischen boten nämlich die Klöster diesen Dichtern die gleiche Poesie, die gleichen Bilder und Melodien, in denen sie bislang gelebt hatten. Bernhard und zusammen mit ihm viele andere Äbte und Autoren des neuen Ordens versetzten auf geniale Weise das gesamte, damals faszinierende Thema „Liebe“ auf das Gebiet der Suche nach der Liebe Gottes, also der Spiritualität, und sie bedienten sich dazu der Sprache der Liebespoesie ihrer Zeit.
Das ging so weit, dass Jean Leclercq, der namhafteste Fachmann für Bernhard und sein Jahrhundert, konstatieren konnte, in der Literatur aus diesen Jahrzehnten fänden sich nicht bei den Dichtern der weltlichen Liebeslieder, sondern beim Mönchsdichter in Clairvaux die intimsten, gewagtesten und hinreißendsten Beschreibungen des Liebesspiels. Ja, Bernhard beeinflusste sogar umgekehrt nachhaltig die weltliche Liebesliteratur seiner Zeit.
Statt eine abstrakte, begriffliche Theologie und trockene Spiritualität zu entwickeln, schilderten diese Männer ganz im Stil ihrer Zeit die Suche des Menschen nach Gott und seine Begegnung mit ihm als eine einzige große Liebesgeschichte voller poetischer, sympathischer Bilder. Natürlich hat sich seit damals, vor 900 Jahren, auch auf diesem Gebiet der Geschmack und Stil gewandelt, so dass uns diese Texte heute nicht mehr so spontan ins Herz treffen wie die Menschen damals. Sie mögen heute etwas märchenhaft, ja kindlich anmuten. Es sind Zeugnisse des frühen Tastens nach unerschlossenen Dimensionen der menschlichen Psyche. Grundsätzlich aber bleibt das eine Alternative zu einer ernst und angestrengt gewordenen Spiritualität und Frömmigkeit, denn in Hochform sind Glaube und Spiritualität nur, wenn sie zu Poesie und Gesang werden. Ich hoffe, ich kann Ihnen wenigstens eine Ahnung davon vermitteln, wie die Menschen das damals begeistert fertig brachten. Vielleicht inspirieren einige ihrer Bilder sogar heute noch unmittelbar.
Sollte jemand von Ihnen das „Buch von der Liebe“ (Vida en el Amor) von Ernesto Cardenal kennen und mögen, dann vermittelt Ihnen das in seiner aktuellen Sprache in etwa Ähnliches. Cardenal hat diese poetischen Texte als Novize in einem amerikanischen Zisterzienserkloster verfasst, also direkt im Klima dieser Tradition.
Der erste Satz des „Hohenlieds“, dieser Sammlung von Liebesliedern lautet: „Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes.“ In seiner ersten Predigt darüber sagte Bernhard: „Das ist ein sympathisches Gespräch: Es beginnt mit einem Kuss. Hier zeigt uns die Heilige Schrift ihr Gesicht und lächelt uns sozusagen bezaubernd an. Sie lädt uns ein und verlockt uns zum Lesen. Wen sollte dieser jähe Anfang ohne Anfang, diese ganz neue Redeweise in diesem alten Buch nicht in höchste Spannung versetzen?“
Damit traf er genau die Wellenlänge seiner Zeitgenossen. Allerdings, so warnte er, sei dieser Text nicht für jedermann geeignet. Er sei keine Milch für infantile Menschen, sondern feste Speise für reife Erwachsene (vgl. 1 Korinther 3,2), die sich in der Auseinandersetzung mit den beiden Grundübeln jedes Menschen bewährt hätten: mit der Liebe zu vergänglichen Dingen und der übermäßigen Liebe seiner selbst.
In einer über Jahre angelegten Predigtreihe legte Bernhard das Hohelied Vers um Vers aus, oder richtiger: Er entwickelte anhand dieser Bilder ausführlich seine Liebeslehre. Mit 86 Predigten kam er nur bis zu Kapitel 3, Vers 1. Zwei seiner Mitbrüder führten diesen Kommentar zu Ende: Gilbert von Hoyland mit 48 weiteren Predigten bis Kapitel 5,10 und Johannes von Ford mit 120 Predigten bis zum Schlussvers Kapitel 8,14.
So kommentierte Bernhard zum Beispiel den Hoheliedvers 2,8: „Horch! Mein Geliebter! Siehe, er kommt und springt über die Berge!“ folgendermaßen:
„Vergegenwärtigen wir uns das Bild: Ein ganz großer Mann, ja ein Riese ist leidenschaftlich in eine arme kleine Frau verliebt. Aber sie ist ihm davongelaufen. Er läuft hinter ihr her, möchte wieder in ihren Armen liegen. Und so springt er mit Riesenschritten über alle Berge hinter ihr her.“ Und er führt aus: Der Riese, das ist Gott. Die arme kleine Frau, das bist du, Mensch. Und dieser große Gott springt aus seiner Höhe über alle Berge und Hügel herab bis zu dir in deiner Niedrigkeit. Er hat den Verstand verloren und verstößt gegen alle Regeln seines Standes.
Die „Regeln des Standes“ waren damals sehr starr, zumal beim Heiraten, das vorwiegend als wichtiger, Status, Beziehungen und Besitz mehrender Vertrag ins Auge gefasst und veranstaltet wurde. Von daher war Bernhards Polemik recht gezielt:
In seinem Buch über die Gottesliebe lesen wir:
„Die Liebe ist ihrem Wesen nach Zuneigung, nicht eine geschäftliche Vereinbarung. Sie lässt sich nicht durch einen Vertrag gewinnen, noch gewinnt sie durch einen Vertrag Menschen. Sie packt den Menschen spontan und lässt ihn spontan reagieren. Wahre Liebe ist sich selbst genug. Sie hat einen Lohn: aber der besteht im Lieben selbst“ (Dil. XVII,17).
Und in seiner 83. Hoheliedpredigt:
„Die Liebe genügt sich selbst, hat an sich selbst um ihrer selbst willen Gefallen. Sie ist für sich selbst Verdienst, ist ihr eigener Lohn. Die Liebe sucht keinen Grund, keine Frucht außerhalb ihrer selbst: Wer die Liebe verwirklicht, der erntet im Verwirklichen ihre Frucht. Ich liebe, weil ich liebe; ich liebe, um zu lieben“ (Cant. 83,4).
Bernhard propagiert da gesellschaftlich wie religiös ein neues, mitreißendes Liebesideal: Weg mit allen Gedanken an Leistung und Verdienst. Die Liebe ist in ihrem innersten Kern zweckfrei, sowohl die Liebe zu einem Menschen wie die Liebe zu Gott. Usus eius fructus eius: Ihre Verwirklichung ist ihre Frucht.
Genauso schon in der 7. Hoheliedpredigt:
„Die lautere Liebe begehrt den, den sie liebt, nicht irgendetwas anderes von ihm. Sie liebt glühend, und sie ist in ihrem Lieben so trunken, dass sie den hohen Rang des Geliebten völlig übersieht“ (Cant. 7,3).
Es ist bemerkenswert, dass in einer aggressiven Männergesellschaft Bernhard hier aus der Perspektive der Frau spricht, ja in ihre Rolle schlüpft; den Menschen also als die kühne Geliebte Gottes beschreibt, die sich so frei fühlt, dass sie keinerlei Distanz oder Unterlegenheit zu empfinden braucht.
Gott seinerseits lasse sich genauso von seiner Liebe zum Vergessen aller Distanz hinreißen, schildert Bernhard in der 79. Hoheliedpredigt, in der er der Liebe direkt zuruft:
„O stürmische, heftige, lodernde, ungestüme Liebe! Du lässt nicht zu, dass man noch an etwas anderes als an dich denkt. Alles andere lässt du fade werden. Alles außer dir verschmähst du. Nur du selbst genügst dir selbst. Du wirbelst die Rangordnungen durcheinander, wirfst Brauch und Herkommen über den Haufen, hältst dich an kein Maß“ (Cant. 79,1).
Von so unvernünftiger Art also sei die Liebe Gottes, des „Riesen“, der sich ganz unstandesgemäß in die „arme kleine Frau“, die jeder Mensch ist, verliebt hat.
In vielen Variationen findet sich bei Bernhard und auch in der zeitgenössischen Liebesliteratur das Bild, wie ein edler Ritter in einer elenden Hütte einem in schmutzige Lumpen gehüllten Mädchen begegnet und unter der hässlichen Hülle eine bezaubernde Anmut erkennt und sich in sie unsterblich verliebt. Bernhard illustriert damit die theologische Wahrheit, dass jeder Mensch trotz seiner Endlichkeit und aller seiner Fehler und Schwächen über eine unzerstörbare Schönheit und Würde als Ebenbild Gottes verfügt und ihn Gott, der Hohe und Edle, nicht anders als lieben kann. Und so verkündet Bernhard in seiner 83. Hoheliedpredigt:
„Jeder Mensch, mag er noch so von Sünden belastet, in Süchte verstrickt, in Unfreiheiten befangen, körperlich belastet und begrenzt sein; mag er im Schmutz kleben, im Kot stecken; mag er an Händen und Füßen gebunden, von Sorgen erdrückt, von Ängsten gequält, von seinen Gedanken ruhelos gehetzt werden; mag er als Verschleppter im Land seiner Feinde vegetieren und, nach dem Wort des Propheten (Bar 3,11) mit den Toten verunreinigt sein und schon in der Liste derer stehen, die für die Unterwelt bestimmt sind; mag er, sage ich, sogar verdammt und bar aller Hoffnung sein, so lehren wir dennoch: Sogar dann kann er in sich spüren, dass ihm die Möglichkeit offen steht, nicht nur aufzuatmen in der Hoffnung auf Vergebung, in der Hoffnung auf Erbarmen, sondern sogar kühn nach der Vermählung mit dem WORT (d.h. mit Christus) zu verlangen. Selbst dann kann er ein Bündnis mit Gott eingehen und braucht sich nicht zu scheuen, mit dem König der Engel das süße Joch der Liebe zu tragen. Denn es gibt absolut nichts, was er nicht unbedenklich dem gegenüber wagen könnte, von dem er weiß, dass sein Bild in sein Wesen geprägt ist und dass ihm der Adel verliehen ist, sein Ebenbild zu sein. Was, sage ich, hat er denn vom erhabenen Gott zu befürchten, wo er doch von ihm abstammt und deshalb das Vertrauen haben darf, zu ihm zu gehören?“ (Cant. 83,1)
Bernhard hat, ganz im Stil seiner Zeit, seine spirituelle Theologie in Form mehrerer Liebesgeschichten erzählt. Er webte sie auf amüsante Weise aus biblischen Zitaten und Begriffen zusammen, zum Beispiel in der Geschichte „von der Äthiopierin, die sich der Königssohn zur Frau nahm“:
„Der Sohn des Königs im himmlischen Jerusalem ritt einmal aus, um die niedriger gelegenen Reiche seines Vaters zu besichtigen. Heimgekommen, sagte er zu seinem Vater: ‚Ich habe eine wunderschöne Frau gesehen, die ich mir unbedingt zur Braut nehmen möchte. Sie lebt im Haus des Königs von Babylon. Der König hält sie dort gefangen. Damit man nicht erkennt, wie schön sie ist, hat er sie in schäbige und schmutzige Kleider gehüllt.’
Darauf sprach der Vater zum Sohn: ‚Unmöglich, dass du das tust, mein gleichewiger, wesensgleicher, unsterblicher Sohn! Die Äthiopierin, von der du sprichst, ist nicht gleichen Ranges mit deinem Geschlecht und deiner unermesslichen Größe.’
Der Sohn erwiderte: ‚Mein Entschluss steht fest: Ich möchte sie mir zur Frau nehmen und werde keine andere heiraten.’ ‚Wenn es so ist’, sagte der Vater, ‚dann sei sie in deine Hand gegeben. Befrei sie aus der babylonischen Gefangenschaft und nimm sie dir nach deinem Wunsch zur Frau.’
Da eilte alsbald eine unzählige Schar von Engeln und himmlischen Heerscharen herbei, denn alle wollten sich an den Vorbereitungen zur Hochzeit des Sohnes des höchsten Königs beteiligen. Einen von ihnen, den Erzengel Gabriel, erkor er zum Brautwerber. Und Gabriel sprach zum Sohn des höchsten Königs: ‚Schau, ich bin deine Stärke. Du brauchst mir nur zu befehlen, dir deine Auserkorene mit Gewalt mitten aus Babylon zu rauben. Ich bin dazu imstande und bereit“ (Parab. VI).
Aber der Königssohn war gegen alle Gewalttätigkeit: Er wollte das freie Ja der Braut.“
Wie der Sohn sich darum bemühte, erzählt Bernhard in verschiedenen Variationen; in der gerade erzählten Geschichte tat er es, wie im Lukasevangelium geschildert: Er schickte Gabriel zu Maria, der aber taktvoll ihr Jawort einholen musste, statt Gewaltv anzuwenden.
Besonders gut gefällt mir eine andere Version in Bernhards 29. allgemeinen Predigt:
„Als Gott sein edles Geschöpf, den Menschen, wiedergewinnen wollte, sagte er zu sich selbst: ‚Zwinge ich ihn gegen seinen Willen, so habe ich einen Esel, keinen Menschen. Soll ich Eseln mein Reich anvertrauen? Oder soll ich als Gott mir Ochsen gefügig machen? Nein: Im Menschen wohnen nicht nur die Angst und die Begierde, die ich benützen könnte, um ihn an mich zu binden, sondern auch die Liebe, und nichts zieht ihn stärker.’
So ging Gott ins Fleisch ein. Er erwies sich als derart liebenswürdig, dass er uns jene größte Art der Liebe erwies, die von niemandem übertroffen werden kann: die Liebe, sein Leben für uns hinzugeben. So trunken war er vom Wein seiner Liebe, dass er ganz seine Größe vergaß und sich nicht an den Rat des Petrus hielt, der zu ihm sagte: ‚Das soll nicht mit dir geschehen!’ (Mt 16,22)“ (Div 29,2-3).
In einer anderen Liebesgeschichte erzählt Bernhard, die Frau, in die sich der höchste König verliebe, lasse sich in Ägypten gefangen halten und sei dort der Sklavenarbeit bei Lehm und Ziegel unterworfen. Wieder ist es dem Liebhaber wichtig, zuerst ihr freies Jawort einzuholen, ehe er sie aus der Knechtschaft in seine Herrlichkeit führen wolle.
So schickt er David mit der Harfe los, der singend und spielend ihre Lebensgeister wecken soll, die, wie es heißt, „im Lehm von Ägypten starr geworden und vom Schmutz verkrustet sind.“
David singt ihr mit den Worten von Psalm 45 zu: „Höre, Tochter, sieh her und neige dein Ohr. Vergiss dein Volk und dein Vaterhaus. Der König verlangt nach deiner Schönheit.“
Zur Verstärkung wird noch Jesaja nachgeschickt, der der Gefangenen zurufen soll: „Steh auf, steh auf, ergreife den Arm des Herrn und werde stark an ihm! Steh auf, steh auf, löse die Fesseln von deinem Hals!“ (Jes 51,17).
Was die Gefangene in ihrem Elend festhielt, waren offensichtlich gar nicht vor allem Zwänge von außen, sondern ihr eigenes Unvermögen.
Sie schafft es, aufzustehen und reitet auf einem Esel – dem Bild der Demut des Palmsonntags – ins Reich des Königs.
Dann folgt in Bernhards Erzählung ein Feuerwerk von Schriftzitaten, fast alle aus dem Hohenlied:
„Und der Bräutigam eilte ihr in festlicher Freude entgegen. Er ergriff ihre rechte Hand, geleitete sie nach seinem Wunsch und nahm sie auf in Herrlichkeit (Ps 73,24). Er führte sie in die Königsstadt und in die Schlafkammer seiner Mutter (Hld 3,4). Dort bettete er sie auf das Lager seiner Liebe (Hld 1,16), zierte sie mit dem Schmuck seines Entzückens, legte seine Linke um ihr Haupt, und seine Rechte umfing ihren Leib (Hld 2,6). Er gab Weisung: ‚Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, stört die Liebe nicht auf, weckt sie nicht, bis es ihr selbst gefällt!“ (Hld 3,5).
Im Spirituellen ist das der erste Höhepunkt der Erfahrung eines Menschen, der zu Gott gefunden hat und von seiner Liebe ekstatisch hingerissen ist.
Im Zwischenmenschlichen ist es der Höhepunkt der Erfahrung des/der Liebenden, einen Menschen gefunden und von seiner Liebe ekstatisch hingerissen zu sein.
Bernhard entwickelte seine Liebeslehre für Mönche, den nur vor solchen predigte er. Sie lässt sich Schritt für Schritt auch auf die Liebe zwischen Mann und Frau anwenden, aber davon schwieg Bernhard. Vielleicht konnte er es angesichts der Verhältnisse seiner Zeit auch nicht recht sehen, hatte er doch auf der einen Seite weithin juristische, erotisch tote Ehen vor Augen, auf der anderen eine problematische erotische Kultur.
Erst einige Jahrzehnte nach Bernhard verfasste Chrétien von Troyes seinen Ehe-Roman Erec und Enide und schrieb darin Bernhards Anleitungen für den spirituellen Weg zu einer Anleitung für den gemeinsamen Weg eines Ehepaars um, lieferte also in Symbolgeschichten einen ersten Leitfaden, wie Eheleute durch Phasen der Krise, des Verstummens und vielerlei Anfechtungen und Belastungen zu einer reifen Liebe vorstoßen können.
Dieser frühe Ansatz einer Integration von mystischer und ehelicher Liebe wurde nicht weitergeführt. So blieb es bis in unsere Zeit beim Ressentiment, ja bei der Not der Vorstellung, es gebe nur ein Entweder – Oder: entweder den intensiv spirituellen Weg ohne oder neben der Ehe oder den weniger spirituellen Weg der Ehe.
Chrétien von Troyes erzählt in Erec und Enide in fast den gleichen Bildern wie Bernhard, wie sich Bräutigam und Braut glücklich finden. Er verwendet bezeichnender Weise ein Bild aus dem 42. Psalm, der in der Osternachtfeier zur Taufe gesungen wird, wenn er schreibt:
„Der gehetzte Hirsch, der vor Durst keucht, lechzt nicht so nach der Wasserquelle, noch eilt der hungrige Sperber so eilends zurück, wenn man ihn ruft, wie diese beiden zueinander eilten, um sich fest umschlungen zu halten. In dieser Nacht wurde ihnen der volle Lohn für ihr langes Warten.“
Aber das ist nicht das happy end, sondern Bernhard wie Chrétien erkennen es als Anfang mit einer verführerischen Tücke; denn, so erzählt Chrétien:
„Erec liebte Enide mit einer derart zärtlichen Liebe, dass er allen Sinn für das Waffengeschäft verlor. Auch ging er zu keinem Turnier mehr, noch hatte er irgendeine Lust zu einem Gefecht. Nein, er widmete seine ganze Zeit den Liebkosungen mit seiner Frau. Sie war sein ganzer Schatz und Liebling. Sein Herz und Sinn kannte nur noch eines: sie zu liebkosen und zu küssen, und in keinem anderen Zeitvertreib suchte er seine Freude.
Seine Freunde grämten sich deswegen; oft sprachen sie mit Bedauern davon, dass er derart vor Liebe von Sinnen sei. Oft war es schon über Mittag, ehe er von ihrer Seite wich.“
Die Bilder von Waffengeschäft, Turnier und Gefecht sind zeitbedingt; dass man das alles bleiben lässt, halten wir heute für wünschenswert. Aber natürlich stehen sie für mehr: für ein energisches Engagement im Leben. Auf spirituellem wie erotischem Gebiet kann es nicht das Endziel sein, nur noch an den Freuden des Bettes sein Gefallen zu finden.
Im Roman macht Enide ihren Erec schließlich darauf aufmerksam. Damit setzt ein langer, mühsamer Prozess ein; beide steigen aus dem Bett, satteln ihre Pferde und bestehen auf einem langen gemeinsamen Weg lebensgefährliche Prüfungen, bis sie am Ende als König und Königin einer reifen Liebe inthronisiert werden und die Verantwortung für ihr Land übernehmen.
In Bernhards Liebesgeschichte, die ich vorhin bis zur glücklichen Bettszene nacherzählt habe, ergreift der Bräutigam die Initiative; schließlich ist er der klarsichtige Sohn Gottes.
Nach einiger Zeit – so wörtlich wieder mit vielen Bibelzitaten - „küsste er sie mit dem Kuss seines Mundes (Hld 1,2), sagte ihr Lebewohl und reiste in ein fernes Land, um sich ein Reich zu erwerben und dann heimzukehren (Lk 19,12)“ (Parab. IV).
Auch in der ersten Geschichte, die ich oben zitiert habe, in der der Engel Gabriel als Brautwerber ausgesandt wurde, erzählt Bernhard, wie der Bräutigam seine Gemahlin kurz nach der Hochzeit verließ:
„Er gab sie in die Obhut der Apostel und befahl ihnen, nicht von Jerusalem wegzugehen, bis sie mit Kraft von oben ausgestattet würden. Am zehnten Tag danach, am Pfingstfest, schickte er vom Himmel ein großes, starkes Heer, das heißt den Heiligen Geist, der ihr Frieden und Freude verschaffte und ihr die übrigen Früchte zuwachsen ließ, die der Apostel aufzählt“ (Parab. VI).
In allen Geschichten schildert Bernhard in der Folge anhand weiterer allegorischer Bilder, wie die allein zurückgelassene Gemahlin alle möglichen Kämpfe, Angriffe, Tücken und Krisen bestehen muss.
Er knüpfte damit an die Erfahrung sehr vieler damaliger Frauen an, deren Männer am Kreuzzug teilnahmen oder in sonstigen Fehden lange außer Haus weilten. Außerdem war das die Erfahrung seiner Mönche und natürlich seine eigene: der Geliebte ist, nach einer ersten intensiven Nähe-Erfahrung, wieder fern, und was dem Alleinen bleibt, ist vor allem die Sehnsucht.
Im Unterschied dazu verabschiedet sich in Chrétiens Eheroman Erec nicht von Enide, sondern sie bleiben äußerlich gemeinsam auf dem Weg. Aber sie werden sich zeitweise grausam fremd, so dass auch hier das Thema Einsamkeit und Sehnsucht zentral wird.
Warum muss das sein? Die aktuelle, spürbare Erfahrung der Liebe des Geliebten ist doch eine so wunderbare Sache, hatte Walter von der Vogelweide geschrieben: Spontan lässt sie „den Menschen in so vielen Tugenden erstrahlen und lehrt ihn eine Fülle edler Sitten.“
Und Bernhard hatte in seinen Predigten gesagt: „Wenn man einander in den Armen liegt und eins wird, macht gleiches Wollen und gleiches Nichtwollen aus zweien einen Geist“ (Cant. 83,3), denn sobald der Geliebte da und spürbar ist, „bewegt, erweicht und verwundet er mein Herz, dieses sonst so harte, steinerne, recht kranke Herz… Es wird erregt, und meine Leidenschaften, meine Sorgen schmelzen. Meine verborgenen Schwächen und Fehler werden mir klar. Ich staune, wie das mich verändert“ (Cant. 74,6).
Aber sobald „das WORT entschwindet, liege ich wieder wie in einer Krankheit starr und kalt da. Es ist, wie wenn man unter einem kochenden Topf das Feuer wegnimmt“ (Cant. 74,7).
Da erinnert Bernhard daran:
„Das WORT hat ja ausdrücklich gesagt: ‚Ich gehe fort und komme wieder zu euch’ (Joh 14,28) und: ‚Eine kleine Weile, und ihr seht mich nicht mehr; und wiederum eine kleine Weile, und ihr seht mich wieder (Joh 16,17). O kleine kleine Weile! O lange kleine Weile! Lieber Herr, du sagst, es dauere eine kleine Weile, in der wir dich nicht sehen werden? Das Wort meines Herrn in Ehren: Es dauert lange, fast unerträglich lange!“ (Cant. 74,4).
„Zeit meines Lebens wird der Ruf ‚Kehr zurück!’ (Hld 2,17) ein Wort sein, das ich oft gebrauchen werde, um das WORT zurückzurufen. Ich werde nicht aufhören, mit der glühenden Sehnsucht meines Herzens zu schreien, wie man einem Davonlaufenden nachschreit, damit es wieder umkehrt und mir wieder die Freude seines Heils schenkt, mir sich selbst schenkt“ (Cant. 74,7).
Bernhard spielt alle Themen von Trennung, Sehnsucht, Suche, falschen und richtigen Wegen, Leiden, Wiederfinden durch. Seine Gottesliebe ist wie die Liebe der Troubadoure weithin ein „amor de lonh“, eine Liebe aus der Ferne, die vibriert in der Spannung von Gegenwart und Abwesenheit. Seine Liebesgeschichte mit Gott ist wie diejenige der Ritter, die durch dunkle Wälder und trostlose Einöden irren, eine Suche nach dem/der Geliebten, eine „queste d’amour“. Die Bilder, ja Gesänge seiner Liebe – er nennt sie nicht caritas, sondern amor – zwischen Entzücken, Ekstase, Inspiration und Leiden bewegt sich ganz auf jenem Wort- und Erfahrungsfeld, auf dem sich auch die Troubadoure tummeln.
Aber er schwelgt nicht nur – wie sie zum größten Teil – in Gefühlen, sondern erschließt seinen Mönchen den Sinn dieses Zustands.
Er erklärt ihnen, diese „erste Liebe“, diese Begeisterung und Glut des Anfangs, sei kostbar und richtig, jedoch müssten sie sehen, dass sie noch sehr ichbezogen sei. Die Erfahrung ihres Entzugs sei notwendig, um eine reifere Liebe zu lernen.
Zum Hoheliedvers „Auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt“ (Hld 3,1) sagt er: „Wie? Du suchst ihn immer noch auf deinem Lager, wo er sich doch längst zu seinem Lager begeben hat? … Er ist aufgestanden, er ist nicht hier (Mk 16,6)! Was suchst du den Starken auf deinem schwachen Lager, den Großen an deinem engen Platz, den Verklärten in einem Stall? Was richtest du immer noch das Bett zum Liegen?“ (Cant. 75,7).
Der folgende Hoheliedvers heißt: „Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen; auf Gassen und Straßen will ich suchen, den meine Seele liebt“ (Hld 3,2), und Bernhard kommentiert dazu:
„Ausgezeichnet! Die Braut kann gar nicht anders, als aufstehen, sobald sie erfährt, ihr Geliebter sei aufgestanden“ (Cant. 75,12).
In der Fassung der lateinischen Vulgata heißt der erste Vers des Hohenlieds wörtlich übersetzt: „Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes; besser als Wein sind deine Brüste“ (Hld 1,1).
Bernhard deutet diesen Vers auf amüsante Weise einmal so:
„Siehst du: Als sich die Braut nach den Umarmungen und Küssen des Bräutigams sehnt, bekommt sie diese Antwort: ‚Besser als Wein sind deine Brüste.’ Sie dürstet nach seiner Gegenwart, aber sie soll erkennen, dass sie Mutter werden und Kinder ernähren soll. Sie ist auf die Ruhe der Kontemplation versessen, aber ihr wird die Mühe des Predigens auferlegt. Das soll uns zur Lehre sein, dass wir meist die süßen Küsse unterbrechen müssen, um die Brust mit Milch zu reichen; und dass keiner für sich, sondern dass jeder für alle leben soll“ (Cant. 41,5-6).
Unsere Zeit reicht nicht, um ausführlich in der Sprache und den Bildern Bernhards die zwei hauptsächlichen Entwicklungen vorzuführen, die er als Aufgabe für die Zeit der Sehnsucht wegen der „Abwesenheit“ des Geliebten vorlegt:
Das ist einmal die Umwandlung der ichbezogenen Liebe „zur sozialen Liebe, indem sie sich immer mehr auf Gemeinsames ausrichtet“ (Dil. VIII,23): Der Bräutigam hat das Bett verlassen und will „auf den Straßen und Gassen“, in den anderen Menschen gesucht und geliebt werden.
Am Anfang liebt der Mensch sowohl Gott als auch Menschen immer auf kindliche Weise, das heißt: weil er Gott oder den betreffenden Menschen für sich braucht. Diese Liebe ist der Einstieg, muss jedoch reifen zu einer Liebe des anderen um seiner selbst willen.
Eine selbstlose, pflichtmäßige Verlagerung vom eigentlichen Ziel der Sehnsucht auf die Nächstenliebe wäre allerdings zu wenig; es bedarf der Erfahrung eines inneren Zusammenhangs.
Dazu bedarf es der zweiten Entwicklung. Sie fängt mit einer nüchternen Selbsterkenntnis an – im Kloster gefördert durch das Schweigen und die Mühsal des Arbeits- und Gemeinschaftslebens -, bei der dem Menschen aufgeht, wie arm und bedürftig er ist. Damit ihm das deutlich wird, lässt ihn der Geliebte so lange allein.
Bernhard leitet nun an, dass „der Blick auf die eigenen Nöte den Blick für die Nöte der anderen öffnet und man durch das, was man selbst erleidet, fähig wird, mit anderen mitzuleiden“ (Grad. V,18) und zur Einsicht zu gelangen, dass man sich selbst nur helfen kann, indem man anderen hilft.
Das Spiel mit dem lateinischen Begriff misericordia für „Barmherzigkeit“ ließe sich in etwa so wiedergeben: Wer selbst „armherzig“ wird, also armen Herzens, wird zur Einfühlung in andere „armherzige“ fähig und kann „bi-armherzig“ („zwei-armherzig“) werden, also „barmherzig“.
Auf dieser Ebene findet Bernhard als der arme Mensch den in Jesus Christus arm gewordenen Gott und umarmt ihn (wie er öfter dargestellt wird); und indem er ihn umarmt, wird er allmählich eines Geistes mit ihm, nach seinem Lieblingszitat 1 Korinther 6,17, das im Lateinischen tatsächlich so lautet: „Wer den Herrn umarmt, adhaeret: fest an sich drückt und nicht mehr loslässt, wird ein Geist mit ihm.“
Das ist der Kern seiner Mystik des Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen.
Der Weg aber ist das praktische Ähnlichwerden mit ihm.
Bernhard erzählt wiederholt von „Besuchen“ des WORTES, von ekstatischen Glücksmomenten; er bringt Beschreibungen des Überwältigtwerdens vom Geliebten in kurzen, seltenen Erfahrungen, in einer poetisch-erotischen und zugleich präzisen Sprache, die allen unreifen Verschmelzungsphantasien eine klare Absage erteilt.
Der Umstand, dass er von Christus mit Vorliebe als vom WORT spricht, deutet auf sein Leben ganz aus dem Wort Gottes, das seine ständige Nahrung war. Er kannte den Wortlaut der lateinischen Bibel derart in- und auswendig, dass sein Latein buchstäblich zum „Bibel-Dialekt“ wurde: Man kann aus seinen Predigten nie genau herausfiltern, was seine eigenen und was Redewendungen der Bibel sind.
Seine Liebes-Mystik ist eine dialogische, die sprühende, reife Entfaltung des Liebesvermögens des menschlichen Herzens.
Weil er Gott zum „Aufessen“ gern hatte, wie das Liebende füreinander empfinden können und richtig verstehen, kann ich jetzt auch unkommentiert zum Schluss noch diese Sätze zitieren:
„Gott isst uns, und er lässt sich von uns essen, je enger wir mit ihm verbunden sind. Erst wenn er mich isst, um mich in sich zu haben, und wenn er umgekehrt von mir gegessen wird, damit ich ihn in mir habe, ist die Vereinigung vollständig und endgültig. Dann bin ich in ihm, und er ist genauso in mir“ (Cant. 71,5).
Aus diesem Grund ließ Bernhard sich auch von seinen Mönchen „aufessen“ und forderte sie auf:
„Nehmt mich in Anspruch, wenn es euch nur irgendwie hilft! Ihr könnt mich schonen, indem ihr mich nicht schont. Ich will im Bewusstsein meine Ruhe finden, dass ihr ohne Bedenken meine Ruhe stört, wenn ihr etwas auf dem Herzen habt. Ich will euch zur Verfügung stehen, soweit ich es kann; will in euch meinem Gott in aufrichtiger Liebe dienen, solange ich lebe. Ich will nicht das Meine suchen; auch nicht, was mir gut tut. Vielmehr, was vielen nützt, das will ich auch für mich als nützlich ansehen“ (Cant. 52,7).
(c) 2013 Bernardin Schellenberger
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