Bernardin Schellenberger
DIE THEOLOGIE DER ZISTERZIENSER
Vortrag an der Universität Bern (Schweiz) am 20. November 1986
Gegen den Begriff einer „Theologie“ der Zisterzienser hätte sich ihr berühmtester Kopf, Bernhard von Clairvaux, energisch verwahrt. Als sein Zeitgenosse Petrus Abaelard ein Buch mit dem Titel Theologia christiana herausgegeben hatte, schrieb er sarkastisch, diese Art, wissenschaftlich von Gott zu reden, bezeichne man richtiger als Stultiloquia - nicht als „Reden von Gott“ also, sondern als Reden von dummem Zeug. Bernhard polemisierte leidenschaftlich gegen Abaelard persönlich und gegen Abaelard als Vertreter der heraufziehenden scholastischen Wissenschaft. Das trug wesentlich dazu bei, ihm und ganz allgemein den Zisterziensern den Ruf zu verschaffen, sie seien der Wissenschaft feindlich gesinnt, und sie verträten einen frommen, gefühlvollen Obskurantismus. Leider ist in der Tat jener Konflikt zwischen „Wissenschaft und Gottverlangen“ (so der Titel des immer noch grundlegenden Buches von Jean Leclercq über dieses Thema), der sich im 12. Jahrhundert besonders zuspitzte, so ausgegangen, dass sich beide Bewegungen auseinanderlebten und zeitweise kaum mehr verstanden.
Aktuell ist dieser Konflikt bis heute. Im vorigen Jahrhundert hat ihn Sören Kierkegaard scharf formuliert, und in unseren Tagen stiftet ihn der Psychologe und Theologe Eugen Drewermann geradezu mit Leidenschaft neu an: Es ist der Widerspruch zwischen dem Theologen, der sein Leben lang in objektiver Nüchternheit sein wissenschaftliches Geschäft treibt, ohne seine Existenz davon betreffen zu lassen - Meister Eckhart nennt ihn den „Lesemeister“ - und dem Lebemeister", der mit Leib und Seele, mit seiner ganzen Existenz und Lebensart versucht, Gott zu erkennen und zu lieben.
Bernhard von Clairvaux hatte nur Verständnis für den „Lesemeister“ (auch wenn er den Ausdruck noch nicht kannte); Gott zum Gegen-Stand objektiven Denkens herabzuwürdigen, zum Gegen-Stand, von dem man sich nicht betreffen, engagieren und ändern lässt, war ihm ein Greuel. Allerdings spielte er in Wirklichkeit nicht Frömmigkeit gegen Wissenschaft aus, Glauben gegen Erkennen; er betonte vielmehr mit Vehemenz, die Grundlage und Bedingung für alles sinnvolle Nachdenken und Sprechen über Gott sei das persönliche Betroffensein und die eigene praktische Lebensart. Auf dieser Grundlage kannte und trieb er durchaus echte Theologie; wo aber diese Grundvoraussetzung fehlte, da war ihm alle Wissenschaft nichts als eitle curiositas, „Neugier“, die blind bleibe oder die Wirklichkeit verzerrt darstelle.
Sieht man genauer zu, so unterschied die heraufziehende scholastische Wissenschaft, der die Zukunft gehören sollte, und die Theologie der Mönche, die vor allem in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts blühte und sich stürmisch gegen diese Wissenschaft wehrte, nicht eine völlig andere Methode, sondern eine lebendige Erfahrung. Die Lehrer an den Kathedralschulen in den Städten waren vorwiegend Theoretiker; es ging ihnen um das comprehendere, um das verstandesmäßige Erfassen und Begreifen; die Mönche in ihren Klöstern und theologischen Klosterschulen dagegen waren von einem neuen Schwung mystischer Gottbegeisterung erfasst und suchten die experientia, die Erfahrung.
Inhaltlich pflegten die Mönche die überkommene Theologie der Kirchenväter, die weithin von Augustinus beherrscht war. Sie gaben ihr allerdings eine sehr charakteristische Prägung. Jean Leclercq stellte deshalb fest: „Wenn es auch keine Spiritualität der Zisterzienser im strengen Sinn gibt,... so gibt es doch – und das ist Cîteaux zu verdanken - eine Theologie der Spiritualität. Die Benediktiner haben uns eine Theologie der Mysterien vermacht; die Zisterzienser haben vor allem eine Theologie des mystischen Lebens entwickelt, und das dank des Einflusses der beiden großen Geister Bernhard und Wilhelm von Saint-Thierry... Man ist fast versucht, nicht von einer Spiritualität, sondern von einer Theologie der Zisterzienser zu sprechen, und man könnte sie noch besser als Theologie von Clairvaux bezeichnen."
Die Zisterzienser entwickelten einen ganz eigenen Stil, Theologie zu treiben. Typisch für ihn war die Vorliebe für bestimmte Themen - nämlich diejenigen des geistlichen Lebens -, ihr ständiger Umgang mit der Bibel, ihr Mangel an Systematik, ihre Adressaten, nämlich die Mönche ihrer Klöster. Sie lieferten auch bleibende und nachhaltige Beiträge zum theologischen Denken im Abendland.
Bernhard z.B. verfasste einen 'Traktat „Über die Gnade und den freien Willen“, und was er darin über die menschliche Willensfreiheit formulierte, übernahm später wörtlich der unbekannte Autor der Summa sententiarum; die für die weitere dogmatische Entwicklung grundlegend wurde. Petrus Lombardus übernahm wiederum Bernhards Ausführungen in sein Sentenzenwerk, so dass dieses Lehrstück Bernhards jahrhundertelang kommentiert und zum Ausgangspunkt für weitere Diskussionen wurde
Bedeutender noch als bleibender Beitrag Bernhards zur Theologie ist seine mystische Liebeslehre.
Aber auch andere Zisterziensertheologen erwarben sich einen festen Platz in der Geschichte der Theologie:
Isaak von Stella mit seiner Erkenntnislehre, die anonym über Alcher von Clairvaux lange weiterwirkte;
Wilhelm von Saint-Thierry mit seinem „Goldenen Brief“, der jahrhundertelang - allerdings unter Bernhards Namen - als Leitfaden geistlichen Lebens diente. Er enthält eine subtile Trinitätstheologie, die Wilhelm auch in anderen Werken entwickelte, hinter der als Grundmotiv die Intuition der Intersubjektivität steht (das heißt: Volle Person wird der Mensch nur über andere, mit anderen), und das „stellt seinen monumentalen Beitrag zur historischen und philosophischen Entwicklung des Personbegriffs im Westen dar.";
Aelred von Rievaulx mit seiner Theologie der Freundschaft, die unglaublich modern-"horizontalistische" Züge trägt;
und noch andere ließen sich aufzählen - wir werden nachher etwas ausführlicher darauf zurückkommen.
Bei näherem Zusehen entdeckt man im Zisterzienserorden im Umkreis Bernhards eine Vielzahl von Autoren, deren Persönlichkeit und Eigenart allzusehr vom Schatten des Ruhms Bernhards verdeckt wurde. Diese Zisterzienser vertraten gar keine streng einheitliche Theologie, sondern entwickelten ihre Lehre von ganz verschiedenen Ansätzen her. „Jenseits der Worte, der Bilder und der Ideen müssen wir den lebendigen Nerv dieser Schule von Cîteaux sehen, wenn wir verstehen wollen, wie sie 'einheitlich' sein konnten, wo ihre Lehrer so unterschiedlich waren. Das wirklich Charakteristische an der religiösen Bewegung, deren Seele Clairvaux war, war die Suche nach Gott, systematisch unternommen von Männern, die davon überzeugt waren, dieser Suche sei das Finden beschieden."
Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts hatte sich im abendländischen Mönchtum eine starke Reformströmung gebildet, unter anderem ausgelöst durch eine neue Unmittelbarkeit zum Evangelium und durch die Wiederentdeckung und Neuerschließung orientalischer Autoren, vor allem der frühen Mönchs- und Kirchenväter, ähnlich wie zur gleichen Zeit die Theologie in Bewegung gekommen war, weil man eine Vielzahl antiker theologischer, philosophischer und naturwissenschaftlicher Schriften entdeckt und erstmals ins Lateinische übersetzt hatte.
Die neue Strömung im Mönchtum war geprägt von einer Frömmigkeit, die subjektiver und affektiver war als die bisherige Gottesverehrung in den Klöstern Clunys. Diesen Geisteswandel führt die Ikonografie anschaulich vor Augen: An die Stelle des streng dreinblickenden Pantokrators in den Apsiden der Kirchen und des herrscherlich am Kreuz thronenden Christus, vor dem man sich nur in scheuer Ehrfurcht und Distanz neigen konnte, trat der Schmerzensmann am Kreuz, der mit uns leidet und - wie
die Legende von Bernhard von Clairvaux wissen will, dass es ihm geschenkt worden sei - der seine Hände vom Kreuz löst, um seinen Jünger zu umarmen. Jetzt beeindruckte die Frommen der Menschgewordene, der arme Wanderprediger Jesus, und seine wahre Verehrung bestand nicht mehr vorzüglich darin, ihn anzubeten, sondern ihn nachzuahmen, indem man Gottes Wort bedingungslos befolgte, alle Menschen liebte und in seiner Gefolgschaft ein Leben der Buße, der Armut und der Entsagung führte. Für diese neuerweckten Nachfolger des armen Jesus waren die überkommenen, reich gewordenen Abteien mit ihren prunkvollen Kirchen und Gottesdiensten nicht mehr der angemessene Rahmen. Darum richteten sich zahlreiche Einzelne und Gruppen auf eigene Faust ihren Lebensstil neu ein. Die Bewegung hatte einen stark eremitischen Grundzug, und die zahlreichen neuen Orden, die damals entstanden, hatten zum größten Teil als Eremitenkolonien angefangen, so die Kamaldulenser, die Kartäuser, die Vallumbrosaner, und auch die Zisterzienser, um nur einige wenige und die langlebigsten von ihnen zu nennen. Es würde hier zu weit führen, dieses Mönchsleben - und sei es nur das zisterziensische - ausführlicher zu charakterisieren. Worum es in unserem Zusammenhang geht, ist der Umstand, dass hier eine Lebensform zu gestalten versucht wurde, in der möglichst effektiv eine Existenz geführt werden konnte, die zu jener geistlichen Erfahrung verhalf, die diese Männer suchten, und für die sie ihre theologische Lehre entwickelten.
Zahllose Studenten wurden Zeugen der geistigen Auseinandersetzung zwischen der rationalen Schultheologie und der enthusiastischen Mönchstheologie, und viele von ihnen wanderten zu den Mönchen ab. Das erklärt ein Stück weit die rapide Ausbreitung der Zisterzienser, die just zum rechten Zeitpunkt die Lebensform für eine neu erweckte religiöse Suche und Begeisterung und mitreißende geistliche Führer zu bieten hatten.
Viele profundi sophistae, "tiefgründige Denker" seien Zisterzienser geworden, berichtete der zeitgenössische Benediktiner Ordericus Vitalis. Und ein anderer Zeitgenosse, Arnold von Bonneval, schrieb in seiner Bernhard-Vita: „Wie viele Männer der Wissenschaft, Rhetoren und Philosophen sind von den weltlichen Schulen zu beschaulichem Leben und göttlichem Streben in sein Kloster gegangen? Welche Kunst oder Wissenschaft hat dort nicht geblüht, wo Scharen von Lehrern und auserlesenen Männern von gepflegtem Geiste wohnten, den göttlichen Wissenschaften oblagen und, der Verantwortung ihrer Gnaden bewusst, einander unterwiesen und begeisterten?"
Nach einer Predigt 1140 an der Pariser Hochschule brachte Bernhard vom Fleck weg über zwanzig Studenten nach Clairvaux mit, die sich als Mönche einkleiden ließen.
Die Blütezeit des Zisterzienserordens war also gekennzeichnet von einer vitalen geistig-geistlichen Kultur und Theologie.
Es gab auch Magister und Studenten, die Zisterziensermönche geworden waren, um die Theorie und Reflexion ganz aufzugeben und sich völlig dem einfachen Leben zu verschreiben. „Wie Caesarius von Heisterbach (um 1180-1240) berichtet, verschwiegen viele Kleriker, als sie sahen, wie manche Magister, die auf ihr Amt in den Schulen verzichtet hatten, zur Abtswürde aufstiegen, da sie wissenschaftliche Bildung und die heiligen Weihen besaßen; in ihrer Demut wollten sie lieber als Laien gelten und die Viehherden hüten als Bücher lesen und über andere herrschen.“
Einer der berühmtesten dieser Männer ist der „Doctor universalis“ Alanus von Lille (um 1115-1202/03), der in Paris und Montpellier als Lehrer gewirkt und seine theologischen Werke geschrieben hatte und gegen Ende seines Lebens in Cîteaux eintrat, und zwar als Konversbruder, um sich einfachen landwirtschaftlichen Arbeiten zu widmen.
Viele andere gebildete Theologen nutzten ihr geistiges Rüstzeug im Kloster weiter, vor allem, wenn sie Äbte und damit die geistlichen Väter und Lehrmeister ihrer Mönche wurden.
Charakteristisch für die Theologen in den Zisterzienserklöstern ist, dass sie, anders als die Theologen an den Schulen, wenig Sinn für Systematik hatten. Sie lehrten eine Theologie aus dem Leben für das Leben, und darum sind ihre Werke zum größten Teil in Form von Predigten zu Sonn- und Feiertagen überliefert, oder als Kommentare zu einzelnen Bibelstellen. Mit Vorliebe legten sie das alttestamentliche "Hohelied Salomos" aus; sie zitierten es auffallend oft, dieses Buch erotischer Liebeslieder, die sie völlig spiritualisierten und als allegorische Bilder für ihre Gottesliebe verwendeten.
Bernhard zum Beispiel formuliert in seinen 86 Predigten über das Hohelied seine ganze mystische Lehre; Gilbert von Hoyland verfasste 48 Predigten über das Hohelied, Johannes von Ford sogar deren 120. Es war ihre zeitgemäße Antwort und Reaktion auf die Kultur der höfischen Liebe, die in ihrer Zeit in Blüte stand. Wie die Troubadoure und Minnesänger in ihren Liedern erstmals Gefühle und Erfahrungen der romantischen Liebe zwischen Mann und Frau zu formulieren versuchten, so sangen sie - zuweilen sogar mit den gleichen Melodien - ihre Lieder auf die Liebe zwischen Gott und der Seele.
Neben den Predigten benützen sie zur Formulierung ihrer Gedanken und Erfahrungen gern die Form von Briefen; allein von Bernhard sind rund 500 Briefe überliefert.
Was Amedee Hallier über Aelred von Rievaulx schrieb, gilt für die anderen Zisterziensertheologen ganz ähnlich: „Die Untersuchung seiner Werke offenbart eine in sich geschlossene Doktrin. Aber um falschen Vorstellungen zu begegnen, müssen wir deutlich sagen, dass er keine Synthese in der Art entwickelt, wie wir uns heute eine Synthese denken. Nirgends in seinen Werken werden wir eine vollständige und methodische Gesamtdarstellung finden. Deshalb mussten wir eine solche Synthese rekonstruieren und zusammenstellen."
Wenn die Zisterzienser regelrechte Traktate schrieben, dann ausnahmsweise, und angestoßen durch irgendeine Kontroverse, die mit ihrem geistlichen Leben, ihren Idealen und ihrem Alltag zu tun hatte.
Charakteristisch für die Zisterziensertheologen ist ferner, dass sie sehr intensiv mit und aus der Bibel leben. Ich zitiere noch einmal Amedee Hallier über Aelred von Rievaulx, weil sich das ganz genauso von Bernhard und den meisten anderen Zisterziensern der Frühzeit sagen lässt: „Aelred denkt, spricht, betet und urteilt mit der Bibel. Aus ihr bezieht seine Lehre ihre Nahrung und ihren Charme. Das Wort Gottes ist die Seele seiner Theologie, die Bibel ist sein Textbuch bei der Ausbildung seiner Mönche,... die Heilige Schrift der bevorzugte Ort der Begegnung mit Gott in der lectio divina."
Schon in den Anfangsjahren von Citeaux hatte der spätere Abt Stefan Harding (+ 1133) die Arbeit unternommen, eine saubere Textfassung der überkommenen Bibel, der „Vulgata“, zu erstellen, weil er festgestellt hatte, dass die damals umlaufenden Kopien zahlreiche Textvarianten und Auslassungen enthielten. Er konsultierte für seine Bibelrevision sogar jüdische Gelehrte, um anhand des hebräischen Urtextes der richtigen Fassung möglichst nahezukommen. 1109 war die umfangreiche Arbeit abgeschlossen. Diese Bibel Stefan Hardings ist uns in der Stadtbibliothek von Dijon erhalten geblieben.
Zwischen den Theologen an den Kathedralschulen und den Mönchstheologen in den Klöstern bestand bei allem Unterschied ein reger Austausch. Einige der bekanntesten Zisterziensertheologen waren vor ihrem Klostereintritt jahrelang Schüler der von Bernhard, Wilhelm, Gottfried und anderen am meisten abgelehnten und bekämpften Lehrer gewesen, zum Beispiel Abälards. Gottfried von Auxerre hatte zu Abälards Füßen gesessen, ehe er 1140 auf die Predigt Bernhards in Paris hin mit der Gruppe von über zwanzig Studenten mit nach Clairvaux ging. Auch Isaak von Stella erhielt einen Teil seiner Ausbildung bei Abälard, und Wilhelm von Saint-Thierry war vermutlich ebenfalls ein Schüler und sogar enger Freund des umstrittenen Meisters gewesen. Als er zwanzig Jahre danach eine energische Stellungnahme gegen Abälards „Theologia christiana“ verfasste, schrieb er nämlich in seinem Begleitbrief: „Ich habe ihn geliebt und möchte ihn ja noch immer lieben,... aber wenn jemand derart monströse Lehrsätze vertritt, kann er nie und nimmer mehr mein Nächster und Freund sein.“
Otto von Freising und Isaak von Stella hatten ferner die Lehrer Thierry von Chartres, Wilhelm von Conches und sogar den „schlimmen“ Gilbert de la Porrée gehört, einen der von den Zisterziensern am energischsten abgelehnten Männer. Isaak von Stella blieb auch als Zisterzienser ein Sympathisant Gilberts, und als dieser 1148 in Reims wegen seiner Dreifaltigkeits-Theorien verurteilt wurde, und zwar auf hartnäckiges, unschönes Betreiben der Zisterzienser, vor allem Gottfrieds von Auxerre, traf das Isaak hart. Er zog sich spürbar zurück und fand erst nach seinem Tod im Orden die ihm gebührende Anerkennung.
Viele Zisterziensertheologen hatten vor ihrem Klostereintritt in den besten Schulen der damaligen Zeit ihre Ausbildung erhalten: Balduin in Exeter, Wilhelm in Reims, Guerric in Tournai, Bernhard bei den Kanonikern von Saint-Vorles zu Châtillon usw. Bernhard verdankte seiner Ausbildung, dass er später kompetent war „in Architektur, Buchmalerei, Musik, Poesie, Literatur, Theologie". Nikolaus von Clairvaux galt als sehr intelligent, kultiviert und in der klassischen Literatur bewandert. Der ehemalige Troubadour Helinand von Froidmont zitierte Seneca, Horaz, Plautus, Juvenal und Ovid. Aelred hatte eine besondere Vorliebe für Cicero. Isaak von Stella und Otto von Freising beschäftigen sich schon mit dem eben erst neu entdeckten und übersetzten Aristoteles. Étienne Gilson schrieb: „Die größte Versuchung für den entschiedensten Weltflüchtling unter ihnen war die, Literat zu werden. An Cicero und Sankt Augustin gebildet, verzichten sie auf alles,... nur nicht auf die Kunst eines guten Stils... Jeder dieser furchtbaren Asketen trägt einen nicht sterben wollenden Humanisten in sich.“
Im gleichen Sinn beurteilte David Knowles das Kloster Rievaulx in England: Zur Zeit Aelreds, schrieb er, war dort „die Quintessenz des Humanismus des 12. Jahrhunderts zu finden.“
Den Grundgedanken und Kern der Theologie der Zisterzienser, um den ihre Predigten und Traktate fast alle kreisen, so vielgestaltig und unterschiedlich im Ansatz sie auch sonst sein mögen, arbeiteten am deutlichsten Wilhelm und Bernhard heraus. Ihre Theologie lässt sich als eine „Theologie der von Gott begeisterten Liebe“ bezeichnen (Gilson sprach von der „theologie cistercienne de l'amour“).
Dieses Grundthema der Zisterzienserautoren möchte ich jetzt mit einigen knappen Strichen umreißen.
Gott, die Liebe, hat den Menschen als sein Bild und ihm ähnlich erschaffen, „ad imaginem et similitudinem", wie es in der Vulgata-Fassung von Genesis 1,26 formuliert ist. Die beiden Begriffe imago und similitudo wurden genauer gefüllt:
Imago, „Bild“ Gottes sei der Mensch unverlierbar: „Er trägt einen lebendigen Abdruck des dreifaltigen Gottes in seiner Seele, eine Verwandtheit seiner Natur mit derjenigen Gottes, eine Befähigung zum göttlichen, übernatürlichen Leben.“ Sie äußere sich, erklärte Bernhard, vor allem in der grundsätzlichen Willensfreiheit des Menschen.
Similitudo, „Gleichnis“ Gottes dagegen sei der Mensch durch seine Fähigkeit, das Richtige und Gute zu wählen und es auch in die Tat umzusetzen. Diese Fähigkeit aber habe der Mensch infolge der Sünde verloren, oder zumindest sei sie geschwächt: Er sei kaum mehr similitudo, „Gleichnis“ Gottes und befinde sich in
einem traurigen Zustand in regione dissimilitudinis, „im Land der Ungleichheit mit Gott , in einem Zustand der Entfremdung von seinem tiefsten Wesen und seinen besten Fähigkeiten. Begriff und Bild stammen übrigens schon von Platon, den unsere Autoren über Augustinus kennengelernt hatten.
Die Aufgabe des Menschen bestehe nun darin, diese verlorene oder verunstaltete similitudo mit Hilfe der Gnade Gottes wiederherzustellen. Vorbedingung sei, dass sich der Mensch um echte Selbsterkenntnis bemüht. Diese Selbsterkenntnis entdecke zwei Dimensionen: zum einen die unendliche Würde des Menschen, seine Sehnsucht und Fähigkeit für Gott als dessen imago, und zum
andern das Elend des Menschen als Gottes verdorbene similitudo.
Bei diesen Besinnungen auf sich selbst und seinen Zustand solle sich der Mensch vom Heiligen Geist leiten lassen, von der Liebe Gottes, die ihn anspricht aus der Bibel als dem Wort Gottes, und in seinem Innern. Und je mehr sich der Mensch darauf einlasse, also auf das Wort der Heiligen Schrift und auf die Stimme seines Gewissens, seines inneren Gespürs, desto stärker werde er gezogen und könne sich aus seinen Unfreiheiten lösen, und desto mehr werde er verwandelt in den, den er liebt.
Schon Platon hatte gelehrt, der Liebende werde durch die Liebe in den verwandelt, den er liebt. Einfacher gesagt: Du wirst von dem geprägt, mit dem du umgehst. Unsere Autoren kannten Platon und übernahmen diese Einsicht. Sie lehrten: Durch deine Liebe, eine ganz praktisch gelebte Gottes- und Nächstenliebe, erhältst du Anteil an der Liebe, die Gott ist, und zwar wesentlich: Deine Liebe ist nicht nur ein Abbild der Liebe Gottes, sondern wenn du liebst, wirkt und leuchtet etwas Wirkliches von Gott in dir auf. Du erfährst dann also etwas Wirkliches von Gott in dir. Das heißt: In dem Maß, in dem du liebst, erkennst du Gott.
Mir kommt das äußerst optimistisch, ökumenisch, modern vor.
Wilhelm brachte es auf die prägnante Formel: amor ipse intellectus est, „die Liebe ist unser Erkenntnisorgan“, also das Organ, das uns Gott (und die Menschen) erkennen lässt.
Von da her gesehen bleibt dann natürlich eine Theologie, bei der der Theologe sich nur als sachlich-objektiver, persönlich nicht betroffener Wissenschaftler versteht, für das Wesentliche blind.
Die Zisterzienser richteten ihre Klöster ein als "Schulen d(ies)er Liebe", als scholas caritatis, und ihre gesamte Theologie und Unterweisung diente dem Ziel, den Mönch in seinem asketischen Bemühen auf diesem Weg zu ermutigen, anzuspornen, zu führen, und eine Lebensform in Gemeinschaft zu gestalten, in der diese Liebe praktisch gelebt wird.
Einzig bei Isaak von Stella finden sich ausführlichere Gedanken im Sinn der „negativen Theologie“, bei anderen, etwa bei 'Wilhelm und Guerric, nur in Spuren, Gedanken also, dass Gott als der Unbegreifliche für uns im Dunkel des unerforschlichen Geheimnisses bleibe. Aber selbst Isaak, der Außenseiter, blieb dabei nicht stehen: Alle diese Zisterziensertheologen waren von großem Optimismus erfüllt, was die Fähigkeit betrifft, Gott zu erkennen und zu erfahren. Sie waren davon überzeugt, dass er im hellen, dem Menschen erfahrbaren Mysterium der Liebe wohne.“ Hans Urs von Balthasar schrieb: “Wilhelms steile trinitarische Mystik“ zumal „scheint oft bis zu einer Vorwegnahme jenseitiger Gottesschau zu drängen, und wirklich spricht er mehrfach davon, wie im vollendeten Liebenden die Strahlen himmlischer Verklärung durch den Geist und sogar durch den Leib hindurchblitzen.“
Jeder von Ihnen, liebe Zuhörer, hat hoffentlich schon Liebe erfahren und liebt einen Menschen. Achten Sie darauf, leben Sie das bewusst, entwickeln Sie ein Gespür dafür, dass der splendor, das Leuchten, die Schönheit eines geliebten Gesichtes etwas Wirkliches von Gott aufleuchten lässt. Dann haben Sie den Einstieg, den Kern, den Ansatz der Theologie der Zisterzienser nicht nur mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen erfasst.
Wie sehr das ganze Denken der Zisterzienser-Theologen auf dieses Ziel der Gottes-Wahrnehmung durch die Liebe hingeordnet ist, lässt sich leicht aufzeigen, wenn man die Traktate, die sie uns hinterlassen haben, thematisch ordnet; vergessen wir dabei aber nicht, dass die Predigten den weitaus größten Teil ihrer Schriften ausmachen, nur dass die gleichen Themen darin verstreut und daher weniger deutlich und greifbar hervorzuheben sind, und wir darauf an diesem einen Abend leider nicht gründlich eingehen können.
Die Vorstellung, der Mensch trage in seinem Wesen, in seiner Seele die imago, das „Bild“ Gottes, führte unsere Theologen konsequenterweise zu einem großen Interesse an der Psychologie. Was sie entwickelten, ist allerdings etwas ziemlich anderes als das, was wir heute als „Psychologie“ kennen. Es handelt sich um eine spekulative Psychologie, um das, was wir heute als „theologische Anthropologie“ bezeichnen, also um die Wissenschaft, die im Licht der Offenbarung das Wesen des Menschen erörtert und vor allem seine Fähigkeit, sich selbst, die Welt und Gott zu erkennen; die von der Struktur seiner „Seele“ als dem Kontaktorgan zu Gott und dem am meisten mit Gott verwandten Element im Menschen handelt.
„Und so gehörte für die Zisterzienser des 12. und 13. Jahrhunderts zum Unterricht in Spiritualität ganz selbstverständlich ein Traktat 'De anima'. Entweder in aller Form konzipiert oder verstreut über gelegentliche Äußerungen, ist dieser Traktat der Schlussstein, der das ganze Gewölbe ihrer Lehre über die Heiligung des Menschen zusammenhält.“
Bernhard entwickelte seine Lehre über die Seele ausführlicher im Traktat „Über die Gnade und den freien Willen“, Wilhelm in „Über die Natur des Leibes und der Seele“, Isaak von Stella in „De anima“, Guerric in „Von der Seele, die krank
ist vor Liebe“, und Helinand in seiner Schrift „Von der Selbsterkenntnis“. Ferner ist uns noch der Traktat eines anonymen Zisterziensers „De spiritu et anima“, „Über den Geist und die Seele“ irrtümlicherweise unter den Werken des heiligen Augustinus überliefert.
Mit diesen Traktaten stiegen die Zisterzienser voll in die Diskussion um einige der zentralen Themen der damaligen Theologie ein und nutzten auch die neu erschlossenen Quellen der Wissenschaft, z.B. die philosophischen und medizinischen Schriften. Wilhelms „Über die Natur des Leibes und der Seele“ ist „ein Beispiel für die Rezeption arabischer Medizin durch die Intellektuellen des Mönchtums im 12. Jahrhundert, und der zweite Teil, über die Natur der Seele, zeugt nicht weniger beredt vom Einfluss griechischer Theologie.“
Erörtern die Autoren in ihren Traktaten über die „Seele“ die Fähigkeit des Menschen, mit Gott in Kontakt zu kommen, so kreisen sie mit einer ganzen Reihe weiterer Traktate um die Themen der Liebe zu Gott und den Menschen. Den Ansatz für ihre Liebestheologie bezogen die Zisterziensertheologen weithin von Augustinus (so vor allem Bernhard, Wilhelm, Aelred und Guerric). Ihre Exegese ist stark von Origenes beeinflusst; Origenes lieferte Wilhelm auch sein Aufstiegsschema. Die einflussreichsten anderen Kirchenväter sind Gregor der Große, Ambrosius, Hieronymus, bei Isaak noch Boethius, und Wilhelm kannte über Scotus Eriugena griechische Väter wie Gregor von Nyssa und Maximus Confessor.
In den meisten dieser Traktate verbanden sie geistliche Theologie und praktische Anleitung für den Mönch legten sie mit Vorliebe in Form von Beschreibungen eines Stufenweges zu immer größerer Liebe und schließlich zur Ekstase und Vereinigung mit Gott an.
Dazu gehören: Bernhards „Über die Stufen der Demut und des Stolzes“, „Über die Bekehrung“, „Über die Gottesliebe“; Wilhelms „Von der Natur und der Würde der Liebe“, „Von der Schau Gottes“, und sein „Goldener Brief“ an die Kartäuser von Mons Dei; Aelreds „Spiegel der Liebe“, und etliche der kurzen Traktate Balduins von Ford.
Diesen beiden Engländern, Aelred von Rievaulx und Balduin von Ford, verdanken wir kostbare Werke über menschliche Liebe und Freundschaft als Teilhabe am Geist der Liebe zwischen Vater und Sohn im dreifaltigen Gott. Aelred schrieb ein Buch „Über die geistliche Freundschaft“, in dem er in Abwandlung einer Formulierung des 1. Johannesbriefs den Satz prägte: „Gott ist Freundschaft, und wer in der Freundschaft bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.". Kostbare Aussagen zum gleichen Thiema finden sich in allen seinen Werken. Und Balduins Traktat 15, „Über das Gemeinschaftsleben“, gehört zum Schönsten und Tiefsten, was im Mittelalter über das Gemeinschaftsleben geschrieben worden ist.
Wenn der Mensch sich auf sein Herz besinnt, dann entdeckt er darin als kostbarste Fähigkeit die Liebe, und, so lesen wir bei Balduin, „dieser Sinn für die Liebe, der in unser innerstes Mark eingesenkt ist, lässt uns spüren, dass das Wesen der Liebe darin besteht, zu lieben und geliebt werden zu wollen. Es ist wie beim Feuer: Denn wie das Feuer nicht nicht brennen kann, so kann die Liebe nicht nicht lieben.“
Wenn der Mensch das erfasst, dann habe er das Lebensgesetz Gottes selbst, das Wesen der Dreifaltigkeit erspürt, die wie ein Feuer sei, das „ständig in Bewegung ist und um sich greift und alles in Brand steckt, weil es nicht in sich allein leben, sondern seine Wärme allem mitteilen will, was es berührt und entzündet. Und so bemüht sich auch die Liebe auf ganz spürbare Weise, sich auszubreiten und das Gut, das sie hat, einem anderen weiterzugeben, den sie in leidenschaftlicher Liebe liebt, damit diese Liebe zum gemeinsamen Besitz wird und der Liebende Gefährten hat, mit denen er die Liebe teilen kann."
Eine ganze Reihe anderer Traktate der Zisterziensertheologen beschäftigt sich mit der Messe. Wilhelm sah die Lehre von der Realpräsenz Christi im Altarsakrament durch einige Äußerungen Ruperts von Deutz bedroht und schrieb ihm darüber in einem langen Brief eine Stellungnahme; anschließend verfasste er einen eigenen Traktat „Über das Altarsakrament“.
Ein langer eher meditativer Traktat gleichen Titels stammt aus der Feder Balduins von Ford; darin plädierte er für den damals noch nicht allgemein akzeptierten scholastischen Begriff der „Transsubstantiation“ und er wurde durch seine Schriften zum Vorläufer der sich im 13. Jahrhundert entfaltenden Fronleichnamsfrömmigkeit. Von Isaak gibt es ebenfalls ein Werk „Über die Feier der Messe", und Gottfried von Auxerre schrieb einen „Brief (an den Kardinal Heinrich von Albano) über die Verwandlung von Wasser und Wein in das Blut Christi“.
Dem theologischen und Frömmigkeits-Klima der damaligen Zeit entsprechend, richtete sich die Aufmerksamkeit bei der Erörterung der Messe stark auf diese wirkliche, wahrhafte „Verwandlung“, und bei den Zisterziensern ordnete sich dieses Interesse ein in ihr Grundanliegen, wirklich und wahrhaftig an Gott zu rühren und ihn zu erfahren, und nicht nur über ihn nachzudenken, zu reden und ihn als wahrscheinlich anzunehmen. „Der Verstand erschließt mehr als die sinnliche Wahrnehmung, der Glaube mehr als der Verstand, und die Schau Gottes mehr als der Glaube“, schrieb Isaak am Schluss seines Traktats über die Messe.
Die Schau Gottes könne der Mensch von sich aus nicht erlangen, sondern sie müsse ihm von Gott geschenkt werden; aber zumindest um die Vorstufe davon könne er sich mühen, um den „Glauben, der mehr ist als Wissen“, wie Wilhelm betonte. Balduin widmete darum der „Empfehlung des Glaubens“ einen langen Traktat, und
Bernhard und Wilhelm betonten in ihren polemischen Schriften gegen Abälard, der Glaube sei wesentlich mehr als - wie Abälard sage - ein „Fürwahrhalten“, existimatio, aestimatio, und Gottfried von Auxerre äußerte, Abälard setze „glaubenslose Thesen über den Glauben in die Welt“, de fide perfide dogmatizans.
Der andere Hauptstreitpunkt der Zisterzienser mit Abälard und Gilbert de la Porrée war die Dreifaltigkeitslehre. Wir haben gesehen, wie diese in ihrer Liebes-Theologie eine zentrale Stellung einnimmt. In seiner „Theologia christiana“ gefährdete Abälard mit seinen Thesen über die Dreifaltigkeit - der Sohn sei die Potenz des Vaters - tatsächlich den Personbegriff (Wilhelm schrieb: „proponit... destructionem personarum", und damit gefährdete er auch die Theologie der Liebe und Gemeinschaft.
Wilhelm, der ausgeprägteste trinitarische Denker und Mystiker unter den Zisterziensern, verfasste dagegen seine Doppelschrift „Spiegel des Glaubens“ und „Rätsel des Glaubens“. Er „verwendet[e darin] traditionelle neuplatonische und biblische Vorstellungen über das Ich des Menschen und zeigt[e], wie dieses Ich wesentlich in die fundamentalere, archetypische Situation der Intersubjektivität einbezogen ist, was einen Meilenstein in der Geschichte der Philosophie darstellt." Dabei griff er den Gedanken vom Menschen als „Bild Gottes“, imago Dei, auf, um zu zeigen, dass das Bild-Sein immer eine „existentiale Intentionalität“ (Tomasič) bedeutet, in schlichtem Deutsch: wer wesentlich „Bild“ ist, der ist mit seinem ganzen Wesen schon immer auf jemand anderen hin angelegt und bezogen, und er bleibt sich selbst entfremdet, solange er nicht aus dieser Beziehung effektiv lebt.
Wichtig ist dabei noch, dass für Wilhelm der Mensch nicht nur ein analoges Bild Gottes war, sondern dass er den Weg einer wesenhaften, substantiellen Vereinigung von Gott und Mensch aufzeigen wollte.
- Unser enger Rahmen zwingt uns, nach diesen kurzen Einblicken unsere Darstellung der Theologie der frühen Zisterzienser abzuschließen.
Man hat das 12. Jahrhundert das „Goldene Zeitalter“ der Zisterzienser genannt, weil damals das Leben, die Mystik, die Theologie der Zisterzienser eine faszinierende Blüte erlebt haben. Insgesamt hat das aber nur wenige Jahrzehnte gedauert, und nur in diesen fünf, sechs Jahrzehnten ist das entwickelt und gepflegt worden, was wir als die hier charakterisierte „Theologie der Zisterzienser“ bezeichnen können. Am Ende des 12. Jahrhunderts wurde das Feuer der großen Gottbegeisterten bereits zur kleinen Flamme, die nur noch hie und da einmal höher aufflackerte. Es ist eine Ermessensfrage, wann genau man das „Goldene Zeitalter“ zu Ende gehen sieht: ob schon in den sechziger oder siebziger Jahren des 12.Jahrhunderts - Wilhelm starb 1148, Bernhard 1153, Guerric 1157, Odo von Morimond 1161, Aelred 1166, Isaak nach 1167, Gilbert von Hoyland 1172, Nikolaus von Clairvaux 1176, Gottfried 1175 oder 1188 -, oder ob man das Ende der Blütezeit in die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts verlegt. Es gibt einzelne, die noch den Geist der Großen in etwa forttrugen: Balduin von Ford (+ 1191), Johannes von Ford (+ 1214), Adam von Perseigne (+ 1221), Helinand von Froidmont (+ um 1230), aber insgesamt zog immer mehr der Geist kleiner Epigonen ein. Was das bedeutet, sieht man schnell, wenn man etwa den monströsen Kommentar über das „Hohelied“ von Thomas dem Zisterzienser, um 1190 geschrieben, mit den entsprechenden Kommentaren Bernhards, Wilhelms, Gilberts vergleicht: das ist nur noch eine Kompilation, eine Zitatensammlung und Fleißarbeit mit endlosen Wort- und Begriffserklärungen ohne Tiefgang.
In scholastischen Distinktionen und Definitionen übten sich mehr und mehr alle anderen Zisterziensertheologen des 13. Jahrhunderts, soweit sie sich überhaupt noch mit Theologie beschäftigten: Gunther von Pairis (+ 1220), Heinrich von Hautcrêt (+ 1231 oder 1232), Heinrich von Marcy (+ 1189), Johannes von Limoges (2. Hälfte des 13, Jahrhunderts), Odo von Ourscamp (+ nach 1171).
Neben ihnen gab es die Moralisten und Formalisten, die vornehmlich asketische Fragen behandelten und Früheres abschrieben und sich mit wenig mystischer Erleuchtung um die Pflege der mönchischen Disziplin sorgten. Aelred hatte seinerzeit, 1141, ein „Speculum caritatis“ geschrieben, dem Mönch also den „Spiegel der Liebe“ zur Gewissenserforschung vor Augen gehalten; Arnulf von Bohéries schrieb fünfzig Jahre danach ein „Speculum monachorum“, einen "Mönchsspiegel", hielt seinen Lesern also das Ideal des vollkommenen Mönchs vor Augen. Die Vertauschung der Spiegel ist symptomatisch. Das Wort „Liebe“ kommt in Arnulfs Leitfaden gar nicht vor; dafür geizt er nicht mit strengen, welt- und menschen- und namentlich frauenverächterischen Verhaltensvorschriften. Im selben Stil gibt es Werke von Galland von Reigny (noch aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts), Gerhard von Lüttich (+ 1270), Matthäus von Rievaulx (+ um 1215), Stefan von Salley (+ 1252) und Oger (oder Oglerius) von Locedio (+ 1214). Letzterer verfasste zudem süßliche Marientraktate, die jahrhundertelang unter Bernhards Namen - als dem zugkräftigeren - verbreitet wurden und Bernhard zu Unrecht den Ruf eines exzessiven Marienverehrers eintugen.
- Warum ist die Theologie der Zisterzienser so rasch verblüht? Ich vermute, im Orden hat sich etwas abgespielt, was sich bei den frühen Trappisten im 17./18. Jahrhundert wiederholen sollte: Gebildete Männer, Theologen, Professoren waren ins Kloster eingetreten und hatten ihm ihre Kultur mitgebracht. Zugleich waren diese Männer nicht müde geworden, als Frucht ihrer eigenen Lebenserfahrung zu betonen, nicht Wissenschaft und Studium, sondern Liebe und gewissenhaftes Leben brächten uns Gott näher. Tatsächlich fehlt es bei unseren großen Zisterziensertheologen nicht an abschätzigen Äußerungen über das bloße Wissen und Studieren. „Bei der Erziehung des Mönchs zur Demut und Liebe, wie Bernhard sie sah, wurde offensichtlich keine Vorsorge und Ermöglichung intellektueller Betätigungen getroffen... Ja, zwischen dem intellektuellen Leben und dem Mönchsleben, wie Bernhard es sah, scheint ein fundamentaler Gegensatz zu bestehen.“
Aber es ist ein Unterschied, ob ein Thomas von Aquin am Ende seines Lebens, nachdem er seine „Summa theologica“ fast fertiggestellt hat, sagt, alle theologische Wissenschaft sei im Vergleich zur Wirklichkeit des lebendigen Gottes nur leeres Stroh, oder ob das ein Theologiestudent im ersten Semester sagt und deshalb das Studieren bleiben lässt.
Die Theologen, die in die Zisterzienserklöster eintraten, brachten ihr wissenschaftliches Rüstzeug mit und nutzten es weiter; aber den vielen Mönchen, die schon jung ins Kloster eingetraten, wurde eine entsprechende Ausbildung offenbar nicht geboten, und so vermochten sie die theologische Tradition der ersten und zweiten Generation nicht aufzugreifen und ebenbürtig weiterzuführen.
Hinzu kommt, dass der „gewöhnliche“, einfache Mönch weder zum Studieren ermutigt wurde, noch die Möglichkeit hatte, sich schreibend oder predigend zu äußern. Das war das Privileg der Äbte, und folglich waren fast alle großen Zisterziensertheologen Äbte und verfassten als Äbte ihre Werke. Damit war der Kreis der denkerisch Kreativen von Anfang an eng gezogen.
Odo von Morimond (1116-1161), der Verfasser eines umfangreichen Werks über die mystisch-allegorische Zahlensymbolik der Bibel und der Tradition, schrieb schon Mitte des 12. Jahrhunderts: „Ein Leben ohne Studium und geistige Arbeit ist für das Herz wie ein Grab. Es ist ein Leben, das eines Mannes unwürdig ist und ihn dem unverständigen Herdenvieh ähnlich macht... Ich möchte gern meine Freude an der Muße (dafür) haben, einige andere aber halten die Muße für den Untergang... Da mir Ruhe und Muße nicht vergönnt sind, ist mein Geist stumpf, redet mein Mund unablässig, und bei all dem ekelt sich mein Geist vor meinem Leben."
Anfang 1227 sprach der englische Abt Stephan Lexington - der übrigens ebenfalls vor seinem Klostereintritt in Paris studiert hatte - in einem Brief von dem „drohenden Verfall und dem Aussterben des Ordens..., weil wir keine Mönche mehr haben, die für beides empfehlenswert sind: für Ordensleben und Studium.“
In einem Brief an den Abt von Pontigny wurde er noch deutlicher: „Es steht zu befürchten, dass die entsetzliche Voraussage eines der führenden Dominikaner Wahrheit wird, nämlich dass sie binnen eines Jahrzehnts gezwungen sein werden, die Führung und Reform unseres Ordens zu übernehmen, da ihm während der letzten dreizehn Jahre kein berühmter Gelehrter, insbesondere kein Theologe, mehr beigetreten ist."
Weil ihnen die neuen Orden der Dominikaner und Franziskaner den Rang abzulaufen drohten, bemühten sich von da an die Zisterzienser um Zugang zu den Universitäten. Ab 1227 schickte Clairvaux junge Mönche zum Studium nach Paris, und Abt Stephan Lexington erhielt 1245 vom Papst die Erlaubnis, „zur Rettung und Ehre des Zisterzienserordens und zur Zierde und zum Ruhm der ganzen Kirche“ ein Studienhaus in Paris zu errichten, was mach etlichen Kontroversen zur Errichtung des „Bernhards-Kollegs“ führte, welches bis 1791 zahlreiche Zisterzienser-Studenten und -Professoren beherbergte. Auch in anderen Universitätsstädten errichteten die Zisterzienser schließlich Kollegien.
Die konservativen Äbte im Orden waren energische Gegner dieses Bemühens um wissenschaftliche Ausbildung und Einrichtung von Studienhäusern, zum Beispiel der Abt von Villers Mitte des 13. Jahrhunderts; er war der Ansicht, damit gehe die „Demut“ und „große Einfalt“ des Ordens verloren. Vor allem bestehe die Gefahr, dass die Mönche die Übungen des klösterlichen Lebens aufgäben und sich stattdessen dem Studium der Wissenschaften zuwendeten.
Ganz unrecht hatten auch diese Äbte nicht, denn die Zisterzienser waren nicht mehr geistig-geistlich vital genug, den theologischen Stil ihrer Vorväter weiterzuführen, sondern sie übernahmen so gut wie ganz jene scholastische Schultheologie, gegen deren erste Vertreter Bernhard, Wilhelm und Gottfried und alle andern mit Leidenschaft angetreten waren.
Im Lauf der Jahrhunderte bis heute hat es etliche zisterziensische Gelehrte und Theologen gegeben, aber stets nur als Teilhaber an der jeweiligen theologischen und wissenschaftlichen Kultur der Zeit.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts besannen sich die beiden Ordenszweige der Zisterzienser zunehmend auf ihre frühe Tradition. 1889 gründeten die „Zisterzienser der Allgemeinen Observanz“ (OCist) des deutschsprachigen Raums die Ordenszeitschrift Cistercienser Chronik, 1938 die „Reformierten Zisterzienser“ (OCR, auch OCSO) des französischen Sprachraums die Collectanea Cisterciensia, worin neben Nachrichten aus dem Orden vorwiegend Studien und Texte zur Spiritualität und Geschichte des Ordens behandelt wurden. Ab 1945 brachten die ersteren die wissenschaftliche Zeitschrift Analecta Cisterciensia heraus, ab 1950 erschien auch bei letzteren als entsprechende Zeitschrift Cîteaux (en den Nederlanden), gegründet von niederländischen Trappisten. So wurden im Lauf der Zeit die Werke aller wichtigen eraus Zisterziensertheologen, von denen die meisten jahrhundertelang in den Bibliotheken geschlummert hatten, fast alle erschlossen und zugänglich. Das bemerkenswerteste Unternehmen sind die vom Cistercian Institute an der Universität Kalamazoo in Michigan/USA seit 1970 herausgegebenen beiden Buchreihen der Cistercian Fathers Series (die Übersetzung und Kommentierung sämtlicher Werke der Zisterzienser) und der Cistercian Studies Series (Spezialstudien über die Geschichte der Zisterzienser im Mittelalter und ganz allgemein des christlichen Mönchtums. Daran arbeiten zwar einige Zisterzienser mit, aber im Ganzen wird diese wissenschaftliche Erforschung der Zisterziensertradition heute von Universitätsinstituten und nicht innerhalb der beiden Orden selbst unternommen. In Deutschland schlossen sich 1972/73 mehrere am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin tätige Mediävisten zu einem Arbeitskreis „Vergleichende Ordensforschung“ zusammen und wandten sich schwerpunktmäßig der Geschichte des Zisterzienserordens zugewandt. Sie veröffentlichen eine wissenschaftliche Buchreihe mit dem Titel "Zisterzienser-Studien", die vorwiegend wirtschafts- und sozialgeschichtliche und weniger theologische und spirituelle Aspekte der Zisterzienser darstellen.
Die Übersetzungen der Zisterzienserautoren, um deren Fülle und Qualität wir unsere Mitbrüder im französisch- und englischsprachigen Raum nur beneiden können, und auch die systematische Darstellung von Einzelthemen aus ihren Schriften halte ich indes für eine sehr wichtige, unerlässliche Vorarbeit - aber auch nicht für mehr als eine Vorarbeit. Die schwierigste Arbeit würde dann erst beginnen: nämlich die hermeneutische Umsetzung ihrer Erfahrungen und Ausführungen in den Horizont unseres heutigen Lebens, Fragens, Suchens, Denkens und Betens. Das ist keine am Schreibtisch und in Vorlesungen und Seminaren zu leistende Arbeit, sondern eine Aufgabe, die man nur mit dem Einsatz seiner ganzen Existenz anpacken kann. Dass sie noch wenig oder gar nicht geleistet ist, zeigt der Umstand, dass auch dort, wo die Schriften der Zisterzienser (sprachlich) zugänglich sind, sie effektiv im Leben der Klöster eine recht unterordnete Rolle spielen und sich die Frömmigkeit der meisten heutigen Zisterziensermönche und -nonnen faktisch aus ganz anderen - und nicht immer den gediegensten - Quellen nährt.
Ich bin aber der Überzeugung, das Kostbarste, was uns die Zisterziensertheologen hinterlassen haben, ist nicht interessantes wissenschaftliches Material, das derzeit sorgfältig erforscht und archiviert wird, sondern eine Begeisterung für Gott und den Menschen als Gottes Bild, eine Begeisterung, die mitreißend ist und das ganze Leben einfordert und verwandelt.
Ich hoffe, Ihnen heute Abend wenigstens eine kleine Ahnung davon vermittelt zu haben.
Tractatus de erroribus Abaelardi IV,9; PL 182,1061B.