Bernardin Schellenberger
Bernhard von Clairvaux: Mystik der Liebe
aus:
ZEUGEN CHRISTLICHER GOTTESERFAHRUNG
hg. v. Josef Sudbrack, M. Grünewald Mainz 1981
I. Das Thema seines Lebens
Jemanden erkennen heißt mit ihm eins werden
„Wir haben einen Menschen gesehen! Aber einen Menschen, der etwas an
sich hatte, das über das bloße Menschsein hinausging. Das, was er tat,
oder seine Zurechtweisungen konnten manchen zum Murren bringen,
denn sie brannten, wenn er nicht da war. Aber der bezaubernde Adel und
die geheimnisvolle Kraft der Liebe, die aus seinem Gesicht strahlten,
verbreiteten einen derartigen Frieden und eine solche Gottesfurcht, dass
man sich Vorwürfe machte, ihm böse gewesen zu sein, sobald man ihm
von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
So hat ein Zeitgenosse, der Zisterzienserabt Isaak von Stella (+ nach 1167),
über Bernhard von Clairvaux geschrieben. Wir wollen hier nicht in erster
Linie sein geistliches Leben, seine Lehre, seine Mystik beschreiben, sondern
versuchen, sie in einer persönlichen Begegnung mit ihm nachzuempfinden.
Das entspricht am ehesten seiner Eigenart.
Denn jemanden verstehen und erkennen bedeutet, ihm ähnlich werden, sich
ihm angleichen und - in der Vollendung - mit ihm eins werden: das haben
die Kirchenväter seit Origenes betont, und Bernhard ist darin ihr getreues
Echo. „Der Unterricht bringt Gelehrte hervor, die liebende Zuwendung
Weise“.
Wirkliches Erfassen ist ein sittliches Tun, ein Sich-Hingeben und Gepacktwer-
den des ganzen Menschen. Darum ist für die Väter Bemühen um Erkenntnis
Askese, geistliche Arbeit und Gebet in einem. Ihr Suchen und Finden der
Wahrheit ist ein existentielles Verhalten, eine Stellungnahme, ein Sich-Verän-
dern durch Angleichung an die Wahrheit. „Das Wesentliche liegt im
sehnsüchtigen Streben; man erreicht es nicht mit der Vernunft, sondern indem
man ihm gleichförmig wird“. Und da für die Väter die Wahrheit kein
abstrakter Begriff ist, sondern im letzten Gott selbst, eine Person, das WORT,
das zu uns gesprochen wurde und in Jesus Christus leibhaftig geworden ist,
kommt für sie das Suchen nach Wahrheit und Erkenntnis einem Gespräch
gleich, einer Suche nach dem Du und nach der Erfahrung der Nähe und
Zuwendung dieses Du.
Wo sich die ganze Existenz eines Menschen auf dieses wesentliche Gespräch
ausrichtet, da werden das Schweigen und das Wort wichtig. Bernhard von
Clairvaux hat den Mönchsorden der Zisterzienser mitgestaltet, in dem das
Schweigen eine große Rolle gespielt hat, und er war ein Meister des Wortes.
Deshalb wird er der „Doctor mellifluus“, der“honigfließende Lehrer“ genannt,
nicht wegen seines geschliffenen Lateins, in das er seine Erfahrungen so zu
fassen vermochte, dass sie den aufgeschlossenen Leser heute noch erregen,
sondern weil er es verstanden hat, aus dem Buchstaben der Heiligen Schrift,
der den meisten trocken und hart wie ein Fels vorkommt, den „Honig“ ihres
geistlichen Sinnes fließen zu lassen. Tatsächlich war Bernhards
Lebenselement die Bibel. Alle ihre Seiten waren ihm ein lebendiges Wort.
„Durch das Wort werden wir neu zur Weisheit befähigt. Das Wort ist eine
Kraft, das Wort ist Weisheit. Darum soll die Seele bei der Kraft Kraft
holen, bei der Weisheit Weisheit schöpfen; und beide Güter soll sie allein
dem Wort zuschreiben. Denn wollte sie eines von beiden oder beides von
anderswoher beziehen, so könnte sie genausogut annehmen, der Bach stamme nicht aus der Quelle, der Wein nicht vom Weinstock und das Licht nicht vom Licht“.
Bernhard war in der Heiligen Schrift derart zu Hause, dass er buchstäblich
„Bibel“ gesprochen hat, wie ein anderer Französisch oder Deutsch spricht: die
Wendungen, Formulierungen und Bilder der lateinischen Vulgata wurden sein
„Dialekt“ und sind gar nicht klar als Zitate aus seinen eigenen Worten
herauszulösen.
Die Frucht solchen Suchens ist nicht ein System klarer Begriffe, sondern
Weisheit im etymologischen Sinn des lateinischen Wortes „sapientia“, das von
„sapere“ – „verkosten, schmecken“ abgeleitet ist. Und die grundlegende
Tätigkeit des Menschen bei dieser Suche ist nicht die „ratiocinatio“, das
spekulativ-abstrakte logische Denken, sondern die „affectio“, ein schwierig ins
Deutsche zu übersetzendes Wort. „Affectio“ und deren Äußerungen, die
„affectūs“, bezeichnen das liebende Verlangen nach Erfüllung und die
Bewegung vorbehaltloser Ganzhingabe seiner selbst, also einen Grundstrom
unterhalb aller Stimmungen und Gefühle. Diese Dynamik macht das Wesen
Gottes aus, so dass Bernhard in Abwandlung von 1 Joh 4,8 sagen kann: „Gott
ist die affectio“. Und: „Ohne die affectiones Liebe und Freude, Furcht und
Trauer existiert die menschliche Seele nicht wirklich“.
Der wesentliche Fortschritt des Menschen, sagt Bernhard,
„geschieht nicht dadurch, dass er sich zu Fuß von einem Ort zum andern bewegt, sondern so, wie es einem geistigen Wesen eigen ist, sich zu bewegen: indem er sein Liebesverlangen - seine affectūs – aktiviert“.
Die „affectio“ ist eine von Gott im Menschen grundgelegte Befindlichkeit,
deren volles Offenbar- und Wirklichwerden die Vereinigung mit Gott bedeutet. Bernhard ruft aus:
„O heilige und lautere Liebe (amor)! O köstliches und süßes Liebesverlangen
(affectio)! O reine und geläuterte Strebung des Willens (intentio voluntatis)!
Sie ist gewiss um so lauterer und reiner, je weniger in sie noch etwas Eigenes (des Menschen) gemischt ist; sie ist um so süßer und köstlicher, je eindeutiger das, was da erfahren wird, ganz göttlich ist. Derart gepackt zu werden, heißt vergöttlicht werden.“
Ausgangspunkt und Ziel: die Liebe
Das Außergewöhnliche und Faszinierende an Bernhard von Clairvaux ist, dass
wir diesen Menschen schon in jungen Jahren in diesem Zustand, in diesem
geistlichen Gepacktsein und mit dieser Leidenschaft der Liebe vorfinden.
Daher lässt sich aus seinen Lebensdaten und seinen Schriften keine eigentliche
geistliche Entwicklung nachzeichnen. Der Einundzwanzigjährige steckt mit
seiner Gottbegeisterung dreißig Verwandte und Freunde an, lebt mit ihnen ein
halbes Jahr in einer Art Kommune, und dann treten sie alle in Cîteaux ein. Mit
fünfundzwanzig Jahren wird er zum Abt ernannt und gründet Clairvaux, und
bereits seine Frühschrift „Uber die Stufen der Demut und des Stolzes“, die
aus seinen Auslegungen der Regel Benedikts für die Mönche entstanden ist,
bietet eine Darstellung der Mystik, die genauso tief ist wie das, was er kurz vor
seinem Tod in seinen letzten Predigten über das Hohelied ausführt.
Seine Lehre ist Reflexion über das, was ihm von vornherein im Überfluss
gegeben war und worin er sich so selbstverständlich bewegte, dass er anfangs
gar nicht begriff, wie andere weniger oder anders empfinden konnten. Er
reflektierte gern und gründlich seine Erfahrungen, aber am stärksten ist er
dort, wo er aus der Fülle des Erfahrenen weitergibt und wenn er, wie in einer
Allerheiligenpredigt, sagen kann:
„Um dieses Gericht für euch vorzubereiten, hat heute die ganze Nacht mein
Herz in meinem Innern gekocht“.
„Mir geht es nicht so sehr darum, Worte zu erklären, als vielmehr, Herzen
anzurühren“,
„und derlei erfasst der Verstand nur in dem Maß, in dem die Erfahrung daran
gerührt hat“.
„Wer nicht liebt, der hört und liest das Lied von der Liebe umsonst... Wie
einer, der kein Griechisch und kein Latein gelernt hat, einen griechisch oder
lateinisch Sprechenden nicht versteht, so bleibt auch die Sprache der Liebe
für den, der nicht liebt, eine unverständliche Fremdsprache“.
„Dieses Lied lehrt nur der Heilige Geist, und einzig die Erfahrung bringt es
uns bei. Wer es erfahren hat, der wird es auf der Stelle wiedererkennen, und
wer es noch nicht erfahren hat, der soll sich glühend danach sehnen; nicht
so sehr danach, es zu erkennen, als vielmehr, es zu erfahren. Dieses Lied
klingt nicht im Mund, sondern es jubelt im Herzen. Es tönt nicht von den
Lippen, sondern es macht uns vor Freude im Innern erregt. Nicht Stimmen
klingen da in eins, sondern die Strebungen von Herzen“.
Bernhards Grunderfahrung ist diejenige des Geliebtwerdens. Menschlich
erfahren in einer glücklichen Kindheit, die von der Liebe seiner Mutter Aleth
überstrahlt war, wurde dies der Grundton seines geistlichen Lebens. „Gott hat
uns zuerst geliebt“ (1 Joh 4,19): diese Aussage wiederholt er oft und gern.
Stefan Gilson hat dargestellt, wie der Abschnitt des 1. Johannesbriefs 4,7-
21, aus dem dieser Satz stammt, zu einem Grundpfeiler der geistlichen Lehre
Bernhards geworden ist: „Gott ist die Liebe, Deus caritas est“ (1 Joh 4,8).
Und weil Gott die Liebe ist, kann ihn nur erkennen, wer selbst liebt: „Jeder,
der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott“ (1 Joh 4,7), und zwar mit der
An Liebe, die von Gott als der Quelle der Liebe geschenkt wird.
Das Geschenk der Liebe setzt Bernhard nach 1 Joh 4,13 gleich mit dem Heiligen
Geist. Dieser, so führt er aus, vereint den Menschen mit Gott und lässt sein
geistliches Leben zu einer Teilnahme am göttlichen Leben werden. Die
Erfahrung dieser uns umgebenden und in uns wohnenden Liebe ist ein
Vorgeschmack und ein Unterpfand der uns noch fehlenden Schau Gottes (1
Joh 4,12-16).
Wie aber können wir wissen, ob die Liebe Gottes in uns ist?
Das ist an zwei Zeichen ablesbar: an der praktischen Liebe zu unseren Brüdern (1 Joh 4,20) und am Grundvertrauen, das unser Leben trägt (1 Joh 4,17-18). Die „Furcht vor dem Gericht Gottes“, die in den Menschen der Antike und des Mittelalters lebendig war, hat für uns Heutige eher den gesichtslosen Ausdruck der
Lebensangst, der Flucht vor der Sinnlosigkeit und der Erfahrung des
Ungeliebt-, Ungeborgen- und Einsamseins angenommen. So ließe sich für uns
heute übersetzen: Wo diese Erfahrungen überwunden sind, da ist die Liebe
Gottes ganz eingezogen.
Der Gedanke, dass „die vollkommene Liebe die Furcht vertreibt“ (1 Joh 4,18),
ist für Bernhard eine Brücke zum zweiten Pfeiler seiner geistlichen Lehre: zur
Regel des heiligen Benedikt. In ihrem siebten Kapitel zeichnet Benedikt den
Stufenweg der Demut und beschreibt seinen Gipfelpunkt ebenfalls mit den
Worten von 1 Joh 4,18: Der Mönch gelangt „zu jener Gottesliebe, die
vollkommen ist und die Furcht vertreibt“.
„Vergebens würden wir den heiligen Benedikt um Aufschluss bitten, wieso
denn die Demut durch den Verzicht auf das eigene Wollen die Liebe bringe.
Bernhards eigenes Werk ist nun gerade die Vertiefung dieses Gedankens
und gleichsam die Wiederherstellung eines inneren Zusammenhangs, wenn-
gleich sich in der Regel immerhin schon die Richtung und Formulierung der
Lösung darbietet. Bernhards eigene Leistung ist der Beweis.“
Ein Leben für die Liebe
Bevor wir in knappen Strichen den geistlichen Weg nachzeichnen, wie ihn
Bernhard, ausgehend von diesen beiden Ansätzen, beschreibt, bleibt noch
einiges zur Charakteristik seines geistlichen Lebens anzumerken.
Aus seiner Grunderfahrung des Geliebtwerdens leitet er eine sehr optimisti-
sche Anthropologie ab. Der Mensch, wie Bernhard ihn sieht, ist für die Liebe
geschaffen. Er hat das zwar weithin vergessen und hat sich in alle möglichen
falschen Richtungen verlaufen, aber wenn er wirklich in sich geht, findet er
unweigerlich die verschüttete Quelle und den Ansatzpunkt der Liebe wieder,
von dem aus ein Aufsteigen und Wachsen möglich ist.
Ein zweiter Grundzug ist die Konsequenz, die sich aus dem eindeutig biblisch-
neutestamentlichen Ansatz seiner Liebeslehre ergibt: „Liebe“ ist nach dem 1.
Johannesbrief eine sehr konkret zu verstehende Bruderliebe. Wenn in
Bernhards Leben eine Entwicklung abzulesen ist, dann in diesem Punkt: der
junge Mann, der leidenschaftlich die Einsamkeit der Kontemplation gesucht
hatte, wurde im Lauf der Jahre zur bekanntesten, aktivsten und einflussreich-
sten Persönlichkeit seines Jahrhunderts. Er bereiste ganz Europa und prägte
die Kirchen-und Weltpolitik maßgeblich mit. Dieser unermüdliche Einsatz aus
der Sorge um die Verwirklichung der Liebe des Evangeliums in Welt, Kirche
und Kloster ließ die Quellen seiner Inspiration nicht versiegen, sondern hat sie
im Gegenteil gespeist. Auch wenn er stöhnen konnte über seine ständige
Beanspruchung, so war doch kein Bruch zwischen seiner kontemplativen und
seiner aktiven Existenz. Von irgendeiner wochen- oder monatelangen Reise
zurückgekehrt, konnte er sofort wieder seinen geistlichen Kommentar zum
Hohenlied fortführen, darin zeit- und kirchengeschichtliche Ereignisse
einflechten und ihn durch Erfahrungen aus seiner Tätigkeit bereichern. Er sah
und lebte die grundlegende Einheit und Verflochtenheit aller Probleme und
Krisen: Was der einzelne an Sünde, Zerrissenheit und Elend erfährt, all die
Leiden der Seele, die von Gott entfremdet lebt - er fand das widergespiegelt in
den Leiden und der Suche der Braut des Hohenliedes nach dem verschwunde-
nen Bräutigam -, das ereignet sich im großen Maßstab in der Sünde, der
Zerrissenheit und dem Elend der Kirche; und die Kirche wiederum ist die
Repräsentantin und der Spiegel der gesamten sündigen, zerrissenen und in der
Gottferne lebenden Menschheit. So focht er in der Einsamkeit der Zelle und
seines Klosters, in den kirchlichen Auseinandersetzungen und in seinen
politischen Aktivitäten stets auf dem gleichen Feld und mit den selben Waffen:
mit seiner Liebe und Gottesbegeisterung gegen die Mächte des Zwiespalts, des
Leidens und des Todes, die, weil sie den einzelnen, die Kirche und die Welt
peinigten, im letzten Gott selbst, den Leib Christi neu in Schmerz und Agonie
stürzten. Das verbannt aus seiner Mystik alle Selbstgenügsamkeit: Der Sinn für
Gott und für Christi Leiden in allen Menschen drängte ihn unablässig zur
aktiven Liebe und zur Hingabe an die anderen.
II. Der Weg zu Gott
Am Anfang: der Einzelne
„Fange damit an, dass du über dich selbst nachdenkst, damit du dich nicht
selbstvergessen nach anderem ausstreckst... Denn wärest du auch weise, so
würde dir doch Wesentliches zur Weisheit fehlen, solange du dich nicht
selbst in der Hand hast.
Die Genialität der Regel Benedikts, in deren Disziplin Bernhard geformt
worden ist, besteht unter anderem darin, dass sie eine Synthese zweier
Grundströmungen des frühen christlichen Mönchtums darstellt: der von
Basilius und Augustinus herkommenden Tradition, deren primäres Anliegen
der Aufbau christlicher Gemeinschaften war, und der von den Wüstenvätern
und Kassian überlieferten Tradition des Eremitentums, dessen Hauptaugen-
merk auf dem geistlichen Fortschritt des einzelnen lag. Das benediktinische
Mönchtum hat stets dazu geneigt, die Regel stärker im Sinn der ersteren zu
interpretieren und die Askese des Mönches primär als Sich-in-Dienst-nehmen-
Lassen für den Aufbau des „Hauses Gottes“, für das Gotteslob und für die
gemeinsamen Aufgaben und Werke der Gemeinschaft zu verstehen und zu
fordern. Die Zisterzienser, aus der eremitischen Bewegung des 11. Jahrhun-
derts kommend, betonten dagegen entschieden den Vorrang des Einzelnen,
obgleich sie ihn zugleich in ein sehr intensives Gemeinschaftsleben einfügten.
Hand in Hand damit ging ihre Vorliebe für die damals „neue“ Methode der
Schriftauslegung, der der Benediktiner Rupert von Deutz (+ 1129) die Bahn
gebrochen hatte. 1113 hatte er es zur Empörung der Fachwelt gewagt, einen
Kommentar zum Johannesevangelium vorzulegen, in dem er sich nicht mehr
damit begnügte, die Vätertradition „objektiv“ zu repetieren, sondern originell
und geistreich bei eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen anzusetzen.
Bernhard hilft diesem Vorrang des lebendigen einzelnen und seiner persönlichen
Begegnung mit Gott vor der Tradition und dem Kollektiv endgültig zum
Durchbruch und trägt entscheidend dazu bei, dass im Zisterzienserorden eine
neue, geistlich und menschlich fruchtbare Synthese von Alleinsein und Leben
in Gemeinschaft geschaffen wird.
So wird der Anfänger in Bernhards geistlicher Schule zunächst einmal - infolge
des strikten Stillschweigens, das in der Gemeinschaft herrscht - mit sich selbst
konfrontiert.
Dieser Einstieg ins geistliche Leben steht auch dem noch nicht Glaubenden
offen: „Denn selbst wenn einer Christus nicht kennt, kann er doch sich selbst
erkennen“. Bernhard ist der Zuversicht, wer sich konsequent diesem
Anspruch der Selbsterkenntnis und Selbstfindung stelle, der finde auch zu
Gott.
Der erste Schritt: Selbsterkenntnis
Mit der Aufforderung, zu sich selbst zu kommen, ist der grundlegende
asketische Anspruch verbunden, aus der Zerstreuung an die vielfältigsten
Dinge bei sich selbst einzukehren und seiner „curiositas“, seiner Gier nach
immer Neuem, die Zügel anzulegen. Diese Beschränkung
„führt zu einem nicht geringen Schmerz, wenn man entdeckt, dass durch die
eigenen Fenster der Tod eingestiegen ist... (Denn solange der Mensch ganz
nach außen gekehrt ist), spürt er selbst Schlimmes wenig oder kaum, und
weder Stolz noch Neid noch die Erinnerung an beschämende und
niederträchtige Taten bereiten ihm Gewissensbisse“.
Doch geht es bei der Bewusstwerdung seiner selbst nicht nur um das Erinnern
an Schwächen, Fragwürdigkeiten und Sünden, sondern auch um das Gewinnen
eines gesunden Selbstwertgefühls. Indiz der Größe des Menschen ist nach
Bernhard die Wahrnehmung, dass er einen unzerstörbaren freien Willen hat und
grundsätzlich immer das Gute wollen kann. Bernhard nennt dies die Freiheit
von der Nötigung, die den Menschen vom Tier unterscheide und zur
unverlierbaren Substanz seines Menschseins gehöre. Er deutet sie theologisch
und sagt: Mit dieser Eigenschaft ist und bleibt grundsätzlich jeder Mensch Bild
Gottes, „imago Dei“.
Zugleich jedoch macht der Mensch die Erfahrung, dass er trotz dieser Freiheit
oft nicht fähig ist, das Gute zu wählen oder das Schlechte zu meiden, selbst
wenn seine Vernunft ihm klar die Richtung weist; und wenn er zu wählen
imstande ist, erlebt er, dass ihm die Kraft fehlt, es auszuführen. Die Fähigkeit
zur freien Wahl und die Kraft, das Gewählte auszuführen deutet Bernhard
wiederum theologisch: sie machten die Gottebenbildlichkeit, „similitudo
Dei“ des Menschen aus, und diese Weisheit und Macht habe er durch die
(Erb-)Sünde verloren. Seitdem ist das Bild Gottes im Menschen mit der
Unebenbildlichkeit Gottes umkleidet und verdunkelt.
Daraus ergibt sich der Weg zur Vereinigung mit Gott: es ist der Weg einer
Widerherstellung des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit, indem er in der
Liebe erstarkt und sein ganzes Wollen und Tun von der Liebe geleitet und zu
ihrem Werkzeug werden lässt. Dadurch löst er sich aus den Hüllen seiner Unähnlichkeit.
„Die Seele soll danach begehren, das zu werden, wozu sie erschaffen worden
ist,“
(nämlich zu diesem) „staunenswerten Wunder der Gottebenbildlichkeit, die
einhergeht mit dem Schauen Gottes, oder vielmehr: die das Schauen Gottes
selbst ist. Ich sage aber: in der Liebe; denn die Liebe ist jenes Schauen, jene
Ebenbildlichkeit“.
„Solche Gleichförmigkeit (im Lieben mit Gott) vermählt die Seele mit dem
WORT. Von Natur aus ist sie ja bereits dem WORT ebenbildlich, und sie
wird ihm auch ebenbildlich dem Willen nach, indem sie in derselben Weise
liebt, wie sie geliebt wird. Wenn sie also vollkommen liebt, kann man sagen:
sie ist vermählt“.
Doch kehren wir zurück zu unserem Ausgangspunkt: In der Besinnung und
Konfrontation mit sich selbst findet sich der Mensch als zwiespältiges,
gebrochenes, inkonsequentes Wesen vor. In Bernhards Ausdrücken: er ist Bild
Gottes, und von da her „capax Dei“, nur mit Unendlichem, Göttlichem zu
sättigen; und zugleich ist er verbannt in die Wüste der Unebenbildlichkeit,
der unzulänglichen Liebe. In dieser Entfremdung von der Liebe und von
Gott ist er auch sich selbst entfremdet; fern vom Tisch des Vaters ernährt er
sich von den Schoten der Schweine. Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn
liefert ein weiteres Bild: Im Adel des Aufrechtstehenden, der zum Himmel
blickt, erschaffen, hat der Mensch sich auf den Boden gekrümmt und zur Erde
geneigt und hat nur noch Sinn für Irdisches, Innerweltliches. Diese
„curvatio“, diese „Krümmung“ seines Wesens äußert sich im Sich-
Zurückbeugen auf sich selbst, in einer narzisstischen Re-flexion, in der
Nabelschau und Verkapselung in sich selbst, in der „voluntas propria“, im
„Eigen-Willen“. Der gekrümmte Mensch stöhnt „unter der unerträglichen Last
seines Eigen-Willens, statt das süße Joch und die leichte Bürde der Liebe zu
tragen“, jener Liebe, die das Lebensgesetz der Dreifaltigkeit ist und „sie zur
Einheit fügt und im Band des Friedens zusammenhält“. „Die Liebe sucht
nicht, was ihr allein nützlich ist, sondern was vielen nützt.“
Und doch, sagt Bernhard, ist diese ichbezogene Liebe, dieser „amor carnalis“,
nicht von Grund auf schlecht. Die Begierde, die das Ihre sucht, ist eine ihrer
selbst unbewusste und verirrte Gottesliebe. Wir begegnen hier seinem
Optimismus und seiner feinen Psychologie und Pädagogik: Er bannt nicht in
unerleuchtetem Eifer alle Eigen-Liebe, sondern erklärt sie zur ersten, wenn
auch unvollkommenen Stufe jener Liebe, die der Mensch zu lernen habe. Du
folgst einem gesunden Instinkt, wenn du dich selbst liebst und wenn du um
dein Ich bangst, und es geht nicht darum, dass du diesen Instinkt abwürgst;
du sollst ihn im Gegenteil befreien aus seiner Engführung und Versklavung,
infolge derer er ständig kurzsichtig mit den falschen Mitteln falsche
Befriedigung sucht, und du sollst ihn ausweiten und „ordnen“ zu einer
unendlichen Liebe und zur Erfahrung eines unendlichen Geliebtwerdens. Die
Selbsterkenntnis führt den Menschen also nach Bernhard zur vollen Konfrontation mit seiner wesentlichen inneren Spannung: angelegt auf Unermessliches (als imago Dei), findet er sich gefesselt und gelähmt in der Enge seiner Schwächen und Begrenzungen (infolge des Verlusts der similitudo Dei). Das Ergebnis ist einerseits ein hohes Selbstbewusstsein (der Mensch ist grundsätzlich auf das Werden-wie-Gott angelegt) und andererseits eine tiefe Beschämung: der Mensch liegt faktisch am Boden (humus) und hat allen Grund zur Demut (humilitas).
„Die Demut ist die Kraft, mit der der Mensch durch eine grundlegende
Erkenntnis seiner selbst in seinen eigenen Augen gering wird“:
das, was er aus sich selbst gemacht hat, fällt wie ein Kartenhaus zusammen;
der Stolz, der sich dank des Mangels an Selbsterkenntnis aufgebläht hatte,
verpufft; aber ebenso wird die latente Verzweiflung, die aus dem Mangel an
Gotteserkenntnis stammte, entschärft.
Von der Demut zum Mit-leid
In seiner Schrift „Über die Bekehrung“ beschreibt Bernhard die Erfahrungen
des Menschen, der versucht, „zu seinem Herzen zurückzukehren“.
„Schließe die Fenster, verriegle die Pforten, verstopfe sorgfältig alle Öffnungen. Und wenn schließlich nichts Neues mehr von außen in dich hineinkommt, kannst du anfangen, den alten Schmutz auszufegen.
Zunächst denkt der Mensch, dieser Auftrag sei leicht auszuführen, weil er keine
Ahnung vom geistlichen sich Mühen hat.“
Er legt also seinen Sinnen zuversichtlich Zügel an.
„Doch mit einem Mal schreien sie alle zusammen auf: Woher stammt dieses
neue Gesetz (unde haec nova religio) ?!. . . Der Arme erbleicht bei diesem
Protestschrei und verstummt in Verwirrung. Sein Geist wird vom Schrecken
gepackt.“
Bernhard beschreibt hierauf in einer Art dramatischen Spiels das Aufbegehren
aller Sinne gegen den Versuch, still zu werden.
„Da wird ihm klar, wie schwierig dieses Geschäft ist, und wie vorschnell die
Annahme war, das gehe so leicht. Das ist unser aller tagtägliche
Erfahrung: dass der, welcher sich vornimmt, sich zu bekehren, um so
schärfer von der Begierlichkeit des Fleisches angefochten wird; und dass das
Volk, das Anstalten macht, aus Ägypten auszuziehen und der Knute des
Pharao zu entkommen, nur um so härter zur Fron unter Lehm und Ziegeln
gezwungen wird.“
Der erste Versuch, zu sich selbst zu kommen, endet enttäuschend und mit
einer ganz eigenen Armuts- und Ohnmachtserfahrung: „Wer ist ärmer im
Geist als der, welcher in seinem ganzen Geist keinen Ruheplatz findet, keinen
Ort, wohin er sein Haupt legen könnte?“ Doch den Armen im Geist,
erinnert Bernhard, sei die Seligkeit versprochen. Er fragt dagegen: „Macht
denn die Armut den Menschen selig? ... Nein, nicht die Armut, sondern die
Barmherzigkeit. Aber der Wohnort der Barmherzigkeit ist die (eigene) Armut...
Wie nützlich ist folglich ein Kranksein, das nach der Hand eines Arztes rufen
lässt!“
„Die Anfechtung ist überstark und grenzt an die Verzweiflung: aber dieser
Erfahrung muss sich der Mensch aussetzen. Er soll erwägen, dass es weder in
seinem Innern, noch in der Tiefe, noch im Umkreis Trost für ihn gibt, bis
ihm schließlich aufgeht, er müsse die Hoffnung oben und von oben her
suchen, von jenem her, der in die Anfechtung und Armut des Menschseins herabgestiegen ist und gesagt hat: ‚Nehmt mein Joch auf euch, und ihr
werdet Ruhe finden für eure Seelen’. Vom Mitleid (des Herrn) gesalbt und
erfüllt, kann der Geist in einem guten Gewissen im Glück zur Ruhe
kommen“.
Dieser buchstäbliche Auf-bruch aus der Erfahrung der eigenen Nichtigkeit
und Ohnmacht zur Öffnung für Gott dürfte der Punkt sein, an dem sich die
Geister scheiden. Zumal heute scheint dieser Aufbruch vielen Menschen nicht
zu gelingen, oder sie lehnen ihn aus prinzipiellen Gründen ab.
Immerhin, auch solche Menschen kann der Blick auf ihre eigene Wahrheit zur
Erkenntnis führen: die anderen sind genauso arme Teufel wie ich selbst.
Sage dir „nicht unwillig und voll Ärger, sondern voll Mit-leid und Sympathie:
‚Jeder Mensch ist ein Lügner’ (Ps 116,10.11, Vulgata). Jeder Mensch ist
schwach, jeder Mensch ist armselig und hilflos, und er kann weder sich noch
einen anderen retten... Und halte dir das nicht nur als Wissen vor Augen,
sondern auch als Schmerz“.
Diese Erwägung kann die Haltung pharisäischer Verhärtung im Gerechtig-
keitsdenken, in dem jeder zur Vertuschung der eigenen Schwächen des andern
Ankläger und Feind ist, zur Barmherzigkeit wandeln, zur Einsicht, dass man
sich selbst nur helfen kann, indem man anderen hilft.
„Um solche Barmherzigkeit zu erlangen, befolgen solche Menschen den Rat
der Weisheit: ‚Selig die Barmherzigen, denn sie werden selbst Barmherzig-
keit erlangen’ (Mt 5,7)... Der Blick auf die eigenen Nöte öffnet den Blick
für die Nöte der anderen; und durch das, was man selbst erleidet, wird man
fähig, mit anderen Leidenden mitzuleiden.“
(So soll der Mensch) „aus jener Schule der Demut vom Heiligen Geist durch
die Zuneigung (per affectionem) in die Weinkeller der Liebe geführt
werden, unter denen zweifellos die Herzen der Mitmenschen zu verstehen
sind.“
Die „voluntas propria“, der Eigen-Wille, soll sich allmählich zur „voluntas
communis“, zum Gemein-Willen, zur Solidarität entwickeln.
Mit-leidende „weiten ihre Zuneigung (affectūs) auf ihre Mitmenschen aus. Durch die Liebe werden sie mit ihnen derart gleichförmig, dass sie ihre Stärken und ihre
Schwächen wie ihre eigenen Stärken und Schwächen empfinden.“
In voller Deutlichkeit zeigt sich hier, wie Bernhards Aufruf zur Selbsterkenntnis alles
andere als die Einladung zu einer selbstgenügsamen Innerlichkeit darstellt.
Diese Entwicklung ist im übrigen nicht die Frucht einer nur gedanklichen und
meditativen Übung, sondern reift im Rahmen einer entsprechenden Lebens-
praxis: Die „fleischliche“ Liebe wird zur sozialen Liebe, indem sie anfängt, sich
auf Gemeinsames auszurichten.
Für Bernhard bedeutet das konkret: die Wahl einer sozialen, engagierten,
gemeinschaftlichen christlichen Lebensform, die sich am Beispiel der Urkirche
inspiriert. In seinen Augen war - sicher ein gut Stück weit subjektiv und
zeitbedingt - deren optimale Verwirklichung das Leben im Zisterzienserkloster
mit seiner Entsagung und seinem konsequenten Gemeinschaftsleben. Der
Mönch „kennt sein eigenes Elend, kennt darum auch die Not seines Nächsten
und entledigt sich unnützer Güter, damit andere keinen Mangel leiden an dem,
was sie, wie er aus eigener Erfahrung weiß, notwendig haben. Er will sich ja
nicht jene Güter als Eigentum anmaßen, die nach Gottes Willen gemeinsam
sein sollen. Der Zisterzienser schenkt nicht, wenn er verzichtet, er stattet
lediglich zurück. Die soziale Gerechtigkeit wieder aufrichten bedeutet ihm,
sich freiwillig dem göttlichen Willen zur Gerechtigkeit einen: er liebt seinen
Nächsten wirklich wie sich selbst aus Liebe zu Gott.“
Gott greift die „fleischliche“ Liebe auf
Sein pädagogisches Prinzip, den Menschen dort zu bejahen und abzuholen, wo
er in seiner Armut und Sünde steht, hat Bernhard aus der Bibel, von Gott
selbst gelernt. Und es entspricht seiner persönlichen Grunderfahrung, von
allem Anfang an bedingungslos geliebt und angenommen zu sein. In einer
originellen Predigt schildert er Gottes Überlegungen:
„Als Gott sein edles Geschöpf, den Menschen, wiedergewinnen wollte, sagte
er zu sich selbst: Zwinge ich ihn gegen seinen Willen, so habe ich einen
Esel, keinen Menschen. Denn er wird keineswegs von selbst und aus freien
Stücken zu mir kommen ... Soll ich Eseln mein Reich anvertrauen ? Oder
soll ich als Gott um Ochsen werben? Damit er freiwillig kommt, will ich
ihm Schrecken einjagen. Vielleicht bekehrt er sich dann und lebt. Und Gott
drohte mit den schlimmsten Dingen, die erdenklich waren, mit ewiger
Finsternis, mit Würmern, die nie sterben und mit einem Feuer, das nie
erlischt. Aber der Mensch ließ sich davon nicht beeindrucken.
Da sagte Gott: Er hat nicht nur eine Anlage zur Angst, sondern auch eine
Anlage zur Begierde. Ich will ihm das versprechen, was ihm am ersehnlich-
sten erscheint... Wenn die Menschen schon derart an diesem elenden,
mühsamen und kurzfristigen Leben hängen, wird sie gewiss die Aussicht auf
ein ruhiges, ewiges, seliges Leben faszinieren. So versprach er ihnen das
ewige Leben; er versprach ihnen, was kein Auge gesehen, was kein Ohr
gehört und was in keines Menschen Herz gedrungen ist.
Als Gott sah, dass auch das nichts half, sagte er sich: Jetzt bleibt noch eines
übrig. Im Menschen wohnen nicht nur die Angst und die Begierde, sondern
auch die Liebe, und nichts zieht ihn stärker. So ging Gott ins Fleisch ein...
Er machte sich zum Toren. . ., war betrunken vom Wein der Liebe und
vergaß sich selbst..., und die Weisheit wurde völlig verhüllt und fleischlich.“
An einer anderen Stelle formuliert Bernhard den Grundsatz:
„Weil wir fleischlich sind und aus der Begierlichkeit des Fleisches geboren
werden, muss unsere Begierde oder Liebe im Fleisch beginnen. Wird diese in
die rechte Ordnung gelenkt, so wird sie unter Führung der Gnade in
bestimmten Stufen voranschreiten und schließlich im Geist zur höchsten
Vollendung gelangen. Denn nicht das Geistige steht am Anfang, sondern
das Fleischliche, Animalische; dann erst kommt das Geistige (vgl. 1 Kor
15,46)“.
Der arme Mensch findet den armen Gott
Der Mensch, dem die Erfahrung seiner eigenen Armut die Augen für die
Armut der ändern geöffnet hat und dessen Liebe noch ganz „fleischlich“ ist,
kann dank der Erniedrigung und Fleischwerdung Gottes inmitten der
scheinbar ausweglosen Armut den armen Gott finden, der ihm einen Weg in
die Freiheit zeigt. Seit Jesus Christus einer von uns geworden ist, sind unser
Elend und unsere Mühsal zum Elend und zur Mühsal Gottes geworden.
„Es gibt etwas, das mich noch mehr bewegt, noch mehr drängt, noch mehr
entzündet. Mehr als alles, sage ich, lässt mich dich, guter Jesus, der Kelch
lieben, den du getrunken hast, dein Werk zu unserer Erlösung. Das nimmt
leicht unsere ganze Liebeskraft für dich in Beschlag. Das, sage ich, ist etwas,
was unsere Hingabe mit größerer Zärtlichkeit anlockt, mit größerem Recht
fordert, mit größerer Strenge bindet, mit heftigerer Liebe entzündet. Denn
daran hat der Erlöser sehr hart gearbeitet. Solch ermüdende Arbeit nahm
der Schöpfer bei der Erschaffung der ganzen Welt nicht auf sich. Denn
damals sprach er, und es ward; er gebot, und es wurde geschaffen (Ps 33,9).
Aber hier traten gegen seine Worte Widerredner auf, gegen seine Taten
Kritiker, bei seinem Leiden Spötter, bei seinem Tod Schmäher. Siehe, so hat
er uns geliebt.“
„Ich habe mich vom Beginn meiner Bekehrung an damit abgemüht (schreibt
Bernhard), mir statt vieler Verdienste, die mir ja doch fehlen..,, ein Büschel
Myrrhe zusammenzubinden und mir mitten auf die Brust zu legen. Ich
habe es zusammengebunden aus allen Ängsten und Bitterkeiten meines
Herrn. Zunächst aus den Nöten seiner Kindheit, dann aus den Mühen, die
er beim Predigen ertrug, aus der Ermüdung beim Wandern, den betend
durchwachten Nächten, den Anfechtungen während seiner Fastenzeit, den
Tränen seines Mitleidens, den Fallstricken, die man ihm in der Unterredung
legte, zuletzt aus den Gefahren, die von den falschen Brüdern kamen, den
Schmähungen, dem Angespieenwerden, den Backenstreichen, den Verspot-
tungen, den Beschimpfungen, den Schmerzen der Nägel und ähnlichen
Bitterkeiten, die der Wald des Evangeliums... hervorgebracht hat.“
Der Weg, das Verhalten und das Schicksal Christi – „sein Leben war eine passive Aktion, und in seinem Sterben erlitt er eine aktive Passion“ - zeigen
den Weg, das Verhalten und das Schicksal des Menschen. Dies ist der Kern
der Meditation Bernhards und seiner Mystik, die von daher ihre
christozentrische Prägung erhält. Die „Passionsmystik“, die er und seine
Schüler entfalten, sucht die volle Identifikation mit dem leidenden und
sterbenden Christus, um seine Auferstehung zu erfahren. „Indem wir (mit dem
mit-leidenden Christus) gleichförmig werden, werden wir umgewandelt.“
„Möchte doch auch an meine Sehne ein Engel rühren und sie lähmen, damit
mir diese Schwachheit endlich zum Fortschritt gereiche, wo ich doch aus
meiner eigenen Stärke immer nur versagen kann.“
In Jesus Christus findet Bernhard den Schlüssel zur Deutung und Verwirkli-
chung des tiefsten Sinnes der menschlichen Existenz und zugleich ein
menschliches Gegenüber, dem er die ganze Leidenschaft seiner affektiven
Liebe zuwenden kann: denn Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch ihn
menschlich lieben kann, mit der gleichen Wärme und Sympathie, mit der er
auch anderen Menschen zugetan ist, - und mit der gleichen Doppeldeutigkeit
einer solchen Liebe, in der schwer auszumachen ist, ob sie um der eigenen
Erfüllung willen oder wirklich um des anderen willen glüht. Wieder sagt
Bernhard in seinem Optimismus: Auch wenn es eine Liebe des Menschen „um seiner selbst willen, nicht um des ändern willen“ ist, so ist es doch jedenfalls
schon eine Liebe, und darum ist sie grundsätzlich gut.
„Mich beschämt es, dass mich die Erinnerung an einen Menschen mehr anregt
als die Erinnerung an Gott. Und ich rufe stöhnend aus: ‚Wann darf ich
kommen und vor Gottes Antlitz erscheinen?’ (Ps 42,3). Ich glaube, manche
von euch haben schon die gleiche Erfahrung gemacht und machen sie
immer noch. Was ist davon zu halten? Ich denke, das dient dazu, unseren
Stolz zu besiegen, unsere Demut zu wahren, unsere brüderliche Liebe zu
nähren und unsere Sehnsucht zu schüren.“
Und auch die Liebe zum Menschen Jesus, so unvollkommen sie anfangs sein
mag, wird in der Begegnung allmählich geläutert: denn was und wen man liebt,
dem wird man ähnlich, und in Jesus ist ja mehr als nur Menschliches.
„Beachte, dass die Liebe des Herzens gewissermaßen fleischlich ist; so bewegt
sie (afficit) das Herz des Menschen stärker zur Liebe zum Fleisch Christi
und zu dem, was Christus im Fleisch getan und geboten hat.“
„Deshalb will ich als Mensch zu Menschen von ihm als Menschen sprechen.
Alle Empfindungen (affectiones) der fleischlich Gesinnten ..., die sich nur
auf fleischliche Weise lieben lassen konnten, wollte er zunächst zur
heilsamen Liebe zu seinem Fleisch bewegen, um sie dann stufenweise zur
geistlichen Liebe zu führen.“
Bernhard führt an der hier zitierten Stelle weiter aus, wie die Apostel sich aus
falschen, allzu irdischen Erwartungen zur Nachfolge Jesu entschlossen hatten:
so unvollkommen konnte - und durfte - der Anfang sein.
Mit diesem menschlichen Zugang zum Menschen Jesus hilft Bernhard einer neuen
Form der Christusliebe zum Durchbruch, die die kultische, objektiv-
pneumatische Verehrung des Gottmenschen und Pantokrators, wie er in den
Apsiden der byzantinischen und romanischen Kirchen thront, ablöst.
Auf dem Weg mit Christus reift die Liebe des Menschen
Einmal mit Christus bekannt und mit ihm auf dem Weg, wächst der Mensch in
der Liebe.
„Zunächst hat er Gott verehrt und aufgesucht, weil er ihn für sich
brauchte. Je mehr er indes über ihn nachdenkt und liest, je mehr er zu ihm
betet und ihm gehorcht, desto vertrauter wird er mit ihm, und ganz
allmählich leuchtet ihm Gott spürbar auf. Daraus ergibt sich, dass er immer
mehr Geschmack an Gott findet. Und wenn er so verkostet, wie gut der
Herr ist, gelangt er auf die ... Stufe, wo er Gott nicht mehr um seines
eigenen Gewinnes, sondern um seiner selbst willen liebt. In diesem
Zustand bleibt man dann lange; und ich weiß nicht, ob ein Mensch in
diesem Leben ganz so weit kommen kann, dass er (auf einer weiteren Stufe)
sich selbst nur noch um Gottes willen liebt. Wer darin Erfahrung hat, mag
davon Zeugnis geben. Mir jedenfalls, so gestehe ich, kommt es unmöglich
vor. Es wird zweifellos dann wahr werden, wenn der gute und getreue
Knecht in die Freude seines Herrn eingeführt wird (Mt 25,21) und trunken
sein wird von der Fülle des Hauses Gottes (Ps 36,9). Er wird dann auf eine
wunderbare Weise sozusagen ganz sich selbst vergessen, gleichsam ganz
und gar sich selbst entschwinden und ganz in Gott eingehen: von da an
wird er ihm anhangen und ein Geist mit ihm sein (vgl. 1 Kor 6,17).“
Der letzte Satz dieses Zitates ist eine behutsame Beschreibung der mystischen
Ekstase, des Aus-stehens des Menschen aus sich selbst in Gott hinein, die in
ihrer Vollendung und Dauer erst nach diesem irdischen Leben erreicht, aber
für kurze Augenblicke doch schon hienieden als gnadenhaftes Geschenk
erfahren werden kann.
Bernhard beschreibt den Weg dorthin sehr nüchtern und praktisch: Er besteht
im Denken an Gott, im Lesen über ihn, im Gebet und im Gehorsam
gegenüber seinem Willen, kurz: in der Praxis des geistlichen Suchens und des
tätigen christlichen Lebens.
„Das Richtmaß ist dabei die Selbstentäußerung Gottes; die Frucht besteht
darin, dass wir von ihm erfüllt werden. Dies zu betrachten, ist der Wurzelgrund der heiligen Hoffnung; es ist der Zündstoff für die höchste Liebe".
„Dem Betenden steht das Bild des Gottmenschen vor Augen, wie er geboren
oder gestillt wird, wie er lehrt, stirbt und aufersteht oder zum Himmel
aufsteigt.“
Charakteristisch für Bernhard ist, dass er sich in seiner Betrachtung der
Lebensstationen Jesu nicht in frommer Phantasie die Details bis ins einzelne
ausmalt, sondern er wird immer schnell beeindruckt von der Grundhaltung,
vom „modus“ Jesu: von seiner Entäußerung, Erniedrigung und Demut und
von seinem Gehorsam. Bernhards Lebensform als Mönch stellte ja offensicht-
lich keine naiv-buchstäblich verstandene „Imitation“ des irdischen Lebens Jesu
dar.
Das Wachstum in der Liebe und im Ähnlichwerden mit Jesus - Bernhards
geistliche Lehre und Erfahrung erinnert in allem stark an Paulus - bedeutet
zugleich ein Hineinwachsen in das Leben des dreifältigen Gottes: durch die
Mühe der Erniedrigung macht uns der Sohn als Lehrer zu Schülern Gottes;
durch das Empfinden des Mitleidens und Mitliebens, das uns der Heilige Geist
als Bruder und Freund eingibt, werden wir zu Freunden Gottes; und durch das
Angenommenwerden vom Vater werden wir zu Söhnen Gottes.
Dies ist im übrigen nichts dem Menschen und damit unserer Erfahrung völlig
Fremdes, sondern wir alle tragen eine Ahnung, eine Intuition davon in unserer
Erinnerung, da wir von Gott als seine Bilder und Ebenbilder ausgegangen
sind:
„Du brauchst keinen neuen Weg zu suchen, sondern du musst nur den dir
bekannten Weg wiederfinden, den du herabgestiegen bist.“
Das Sich-selbst-Genommenwerden von Gott
In einem kühnen Bild vergleicht Bernhard den Reifungsprozess des Menschen
zur Vereinigung mit Gott hin als ein Gegessenwerden des Menschen von Gott
und Gottes vom Menschen. Er spricht in diesem Zusammenhang nicht
ausdrücklich von der eucharistischen Kommunion, obwohl dies naheliegend
wäre und bei ihm eine selbstverständliche Voraussetzung ist; aber seine
geistliche Lehre ist von einer „auffallenden Asakramentalität“. Er bespricht
vorrangig die konkreten Erfahrungen des einzelnen und lebt vor allem aus
dem Wort der Heiligen Schrift.
„Gottes Nahrung ist meine Bekehrung, seine Nahrung ist mein Heil, seine
Nahrung bin ich selbst. Isst er denn nicht Asche wie Brot? Und da ich ein
Sünder bin, bin ich Asche, um von ihm gegessen zu werden. Wenn ich
zurechtgewiesen werde, werde ich gekaut; wenn ich unterwiesen werde,
werde ich geschluckt; wenn ich verändert werde, werde ich gekocht; wenn
ich umgewandelt werde, werde ich verdaut; wenn ich ihm gleichgeformt
werde, werde ich mit ihm vereint.
Wundert euch darüber nicht: er isst uns, und er wird von uns gegessen, je
enger wir mit ihm verbunden sind. Und es gibt keine andere Möglichkeit für
uns, völlig mit ihm geeint zu werden. Denn wenn ich ihn esse, aber nicht
von ihm gegessen werde, ist er zwar in mir, aber ich bin noch nicht in ihm.
Und wenn ich von ihm gegessen werde, aber ich ihn nicht esse, hat er mich
zwar in sich, aber er ist noch nicht in mir. In beiden Fällen ist die
Vereinigung nicht vollkommen. Erst wenn er mich isst, um mich in sich zu
haben, und wenn er umgekehrt von mir gegessen wird, damit ich ihn in mir
habe, ist die Vereinigung vollständig und fest. Dann bin ich in ihm, und er
ist genauso in mir.“
Bernhards eigene Lebenspraxis ist das beste Beispiel dafür, dass die Einübung
in das „Sich-essen-Lassen“ nicht nur in der Zweisamkeit mit Gott stattfindet,
sondern im täglichen Umgang mit den Menschen. Er hat sich von den
Menschen buchstäblich „auffressen“ lassen. In einer Predigt sagte er zu seinen
Mönchen:
„Nehmt mich in Anspruch, wenn nur ihr gerettet werdet! Ihr werdet mich
schonen, indem ihr mich nicht schont. Und ich will eher darin meine Ruhe
finden, dass ihr ohne Bedenken meine Ruhe stört, wenn ihr etwas auf dem
Herzen habt. Ich will euch zur Verfügung stehen, soweit ich es kann; will in
euch meinem Gott in ungeheuchelter Liebe dienen, solange ich lebe. Ich
will nicht das Meine suchen, auch nicht, was mir gut tut; sondern was vielen
nützt, das will ich auch für mich als nützlich ansehen.“
Das Sich-selbst-Genommenwerden ist denn auch der Ausdruck, mit dem
Bernhard den Gipfelpunkt der mystischen Erfahrung beschreibt:
„Es gibt zwei Weisen der Kontemplation. Manche Menschen steigen (aus
eigener Anstrengung) hinauf und stürzen ab; andere jedoch werden (sich
genommen und hinauf)gerissen (rapiuntur) und steigen herab... (Die
ersteren) haben ihren eigenen Kräften und ihrer Fähigkeit zugeschrieben,
was (in Wirklichkeit) Gott ihnen offenbart hat. Darum folgt ihr Absturz:
‚und sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit. Sie behaupteten, weise
zu sein, und wurden zu Toren’ (Rom 1,21 f). Die Auserwählten dagegen
werden hingerissen (rapiuntur), wie Paulus und alle, die ihm gleichen. Auch
sie steigen herab, um das, was sie in der Ekstase (per excessum mentis)
geschaut haben, den Unmündigen weiterzusagen.“
„Die Kontemplation wird geschenkt, indem das WORT Gottes aus Gnade
zur menschlichen Natur herabsteigt und indem die menschliche Natur von
der Liebe Gottes zu diesem WORT emporgehoben wird.“
In der Entrückung, die Paulus beschreibt (2 Kor 5,13 ;12,1-5), findet
Bernhard seine eigene Erfahrung wieder. Es gebe Menschen, so schreibt er,
„die zuweilen in einer Ekstase der Kontemplation im Geist sich selbst
genommen werden und ein ganz klein wenig von der Süße der ewigen
Glückseligkeit verkosten dürfen. Sie sind so lange frei von der Not (des
irdischen Daseins), wie sie sich auf diese Weise genommen sind. Und sie
erfreuen sich .. . schon in diesem Fleisch, wenn auch selten und nur in jähen
Momenten, völliger Freiheit, das Gute zu wollen.“
Erfahrungen der Nähe und der Vollendung
Die ekstatischen Erfahrungen, die Bernhard mit den Ausdrücken „raptus“
(Hingerissenwerden) und „excessus“ (Außersichsein) bezeichnet, erweisen sich
ganz konsequent als die Vollendung seiner Lehre von der Liebe. Sie sind von
keinerlei außergewöhnlichen Begleitumständen umgeben, sondern stellen den
Zustand vollkommener Liebe dar, eine Integration restlos aller Wahrnehmungen und Strebungen in die allumfassende Liebe Gottes:
„Die Liebe hat an sich selbst genug. Wo die Liebe einzieht, zieht sie alle
anderen Empfindungen (affectūs) an sich und nimmt sie gefangen. Deshalb
liebt die Seele, die liebt, und sie kennt nichts anderes als: lieben.“
Als Dauerzustand kann der Mensch das erst nach diesem Leben erreichen.
Aber es gibt kurze Augenblicke der Erfahrung reiner, vollkommener Liebe,
und darum des Einsseins mit Gott:
„Das Fleisch und Blut, das tönerne Gefäß, die irdische Wohnstatt: wann
können sie das fassen ? Wann erfahren sie dieses Angerührtwerden: dass der
Geist, trunken von göttlicher Liebe, sich selbst vergisst, wie ein Gefäß in
sich selbst zerbricht, ganz in Gott eingeht, Gott anhängt und ein Geist mit
ihm wird (vgl. 1 Kor 6,17)? Dass er sagt: ‚Mein Fleisch und mein Herz
vergehen, Gott ist der Gott meines Herzens, und mein Anteil ist Gott in
Ewigkeit’ (Ps 73,26, Vulgata)?
Selig nenne ich den und heilig, dem geschenkt wird, etwas derartiges in
diesem sterblichen Leben zu erfahren, selten zwar, aber doch zuweilen;
oder auch nur einmal, und dies ganz plötzlich, im Zeitraum eines einzigen
winzigen Augenblicks. Denn das ist ein Anteil am Zustand der Himmlischen,
nicht Sache menschlichen Empfindens: dich sozusagen zu verlieren,
gleichsam als wärest du nicht mehr; dich selbst überhaupt nicht mehr zu
spüren, deiner selbst entledigt und nahezu zu Nichts geworden zu sein.“
Bernhard beschreibt diese Vereinigung mit den klassisch gewordenen Verglei-
chen, die Maximus Confessor (+ 662) erstmals gebraucht hat:
„Wie ein kleiner Wassertropfen, der in eine Menge Wein fällt, sich scheinbar
ganz auflöst, indem er den Geschmack und die Farbe des Weines annimmt;
und wie ein glühendes und leuchtendes Eisen ganz wie das Feuer wird und
seine frühere eigene Form ablegt; und wie die Luft, durch die ein
Sonnenstrahl fährt, in die gleiche lichtvolle Klarheit verwandelt wird, so
dass sie nicht nur erleuchtet, sondern selbst Licht zu werden scheint: so
muss in den Heiligen alle menschliche Liebeskraft (humana affectio) auf
eine unaussprechliche Weise sich selbst ganz verflüssigen und sich ganz und
gar in das Wollen Gottes ergießen. Denn wie anders würde Gott alles in
allem sein, wenn im Menschen noch etwas vom Menschen übrig bliebe?
Zwar bleibt seine Substanz, aber in einer anderen Form, in einer anderen
Herrlichkeit, in einer anderen Potenz. Wann wird dies der Fall sein ? Wer
wird das zu schauen bekommen? Wer wird das besitzen? Wann darf ich
kommen und vor dem Antlitz Gottes erscheinen (Ps 41,3) ? Mein Herr und
Gott, zu dir spricht mein Herz, dich sucht mein Antlitz; dein Angesicht,
Herr, will ich suchen (Ps 27,8). Glaubst du, ich werde deinen heiligen
Tempel schauen?“
Eine solche Erfahrung muss bezahlt werden um den Preis der um so
schmerzlicheren Erfahrung des gewöhnlichen Alltags, in dem noch nicht diese
Liebe alles beherrscht und erfüllt:
„Und wenn einer der Sterblichen zuweilen dazu - wie gesagt: für einen
kurzen Augenblick - hingerissen wird, so neidet ihm das sogleich die
nichtsnutzige Welt, verwirrt ihn die Bosheit des Tages, belastet ihn der
Todesleib mit seiner Schwere, meldet sich die Notwendigkeit seines
Fleisches, erträgt es seine Schwäche und Hinfälligkeit nicht, und was ihn am
gewalttätigsten davon fortreißt, ist die Liebe zu den Brüdern, die ihn
zurückruft. Wehe! Er wird gezwungen, zu sich selbst zurückzukehren, auf
sich selbst zurückzufallen, und aus seinem Elend kann er nur schreien:
‚Herr, ich leide Gewalt, stehe du für mich Rede und Antwort!’ (Jes 38,14)
und: ‚Ich unglückseliger Mensch, wer wird mich aus diesem Todesleib
befreien?’ (Röm 7,24).“
Im übrigen ist der Mensch noch gar nicht fähig, die Fülle der Liebe und der
Herrlichkeit Gottes zu ertragen: sie würde sein allzu enges Gefäß sprengen.
Deshalb wird sie, wenn sie einmal aufblitzt, sofort abgeschattet:
„Wenn aber jäh (raptim) und schnell wie ein zuckender Blitz in einer Ekstase
dem Geist etwas unmittelbar von Gott her aufleuchtet, so treten sofort, ich
weiß nicht woher, bildliche Vorstellungen von Dingen niedrigeren Ranges
auf, entweder um den überstarken Glanz zu dämpfen oder um der
Unterweisung zu dienen; sie sind den von Gott her überströmten Sinnen
angepasst und umschatten sozusagen jenen völlig reinen, blendend leuchten-
den Lichtstrahl der Wahrheit, damit ihn die Seele ertragen und für die,
denen sie ihn mitteilen will, fasslicher machen kann.“
Die Alltagsform und der „Schatten“ dieser Liebe ist der Dienst am Bruder, vor
allem der Dienst des Wortes:
„Beachte aber, dass (die Braut) etwas anderes empfängt, als sie ersehnt. Sie
bemüht sich um die Ruhe der Kontemplation, aber ihr wird die Mühe des
Predigens auf erlegt. Sie dürstet nach der Gegenwart des Bräutigams, aber
ihr wird die Sorge aufgebürdet, dem Bräutigam Kinder zu gebären und sie
zu ernähren. Und dies erlebt sie nicht nur gegenwärtig; bereits ein anderes
Mal, so kann ich mich erinnern, als sie sich nach den Umarmungen und
Küssen des Bräutigams sehnte, bekam sie zur Antwort: ‚Besser als Wein
sind deine Brüste’ (Hld 1,1, Vulgata). Sie sollte daraus erkennen, dass sie
Mutter sei und sich darum kümmern solle, den Kleinen Milch zu reichen
und ihre Kinder zu ernähren... So empfängt die Braut, die sehnlichst wissen
will, wo der Geliebte zur Mittagszeit weidet und ruht, statt seiner ‚goldene
Gehänge, mit Silber bunt besetzt’ (Hld 1,10, Vulgata), das heißt: Weisheit
und die Gabe der Rede, zweifellos dazu, dass sie sich der Verkündigung
widme. Das soll uns wohl zur Lehre sein, dass wir meist die süßen Küsse
unterbrechen müssen, um die Brust mit Milch zu reichen; und dass keiner
für sich, sondern für alle leben soll.“
In ihrem innersten Kern ist die mystische Erfahrung transzendentaler Natur:
sie übersteigt alle Kategorien menschlichen Empfindens und Erfahrens, und
nur ihr Nachhall wird in der Erinnerung greifbar. Bernhard bringt das ins Bild
von der Braut, die schläft und sich beim Aufwachen erinnert, dass da „etwas“
Unfassbares war:
„Schließlich wird die Seele ins Ruhegemach des Königs zugelassen, nach
dessen Liebe sie krank ist. Dort ruht sie ein kleines Weilchen köstlich in
seinen Umarmungen, nach denen sie sich so gesehnt hat, wenn für eine
halbe Stunde ein Schweigen im Himmel eintritt. Sie selbst schläft zwar, aber
ihr Herz wacht und durchforscht in dieser Zeit die Geheimnisse der
Wahrheit. Und wenn sie wieder zu sich zurückgekehrt ist, zehrt sie von der
Erinnerung an sie. Dort schaut sie Unschaubares, hört Unaussprechliches,
das kein Mensch aussprechen darf. Das übersteigt alles jenes Wissen, das
eine Nacht der andern zuraunt. Doch ein Tag gibt das Wort an den andern
Tag weiter, und unter Weisen darf von der Weisheit gesprochen und an
geistliche Menschen darf Geistliches weitergesagt werden.“
Bei der Beschreibung dieser Erfahrung versagen die Worte. Es lässt sich
leichter sagen, was sie nicht ist, und am ehesten kann man sie umschreiben,
indem man ihre Wirkungen auf den Menschen nennt:
„Eine so ergriffene und mit Liebe beschenkte Seele wird mit jener
Offenbarung des Bräutigams nicht zufrieden sein, die durch die geschaffe-
nen Dinge sehr vielen Menschen zuteil wird, noch mit jener, die wenige in
Geschichten und Träumen erleben. Die Seele gibt sich erst zufrieden, wenn
sie den besonderen Gnadenerweis erfährt, den vom Himmel her sich ins
innerste Mark ihres Herzens senkenden Gott in zartester Liebe aufnehmen
und ihn, nach dem sie verlangt, bei sich haben zu dürfen, nicht bildhaft,
sondern ins Innerste eingesenkt, nicht den Sinnen wahrnehmbar, sondern
im Innersten ergreifend. Ohne Zweifel ist sie um so seliger, je mehr er innen
und nicht mehr außen ist. Denn er ist ein WORT, das nicht tönt, sondern
eindringt; das nicht redet, sondern wirkt; das nicht in den Ohren klingt,
sondern die innersten Strebungen liebevoll betört. Er hat kein Antlitz mit
ganz bestimmt geformten Zügen, sondern er formt uns selbst zu seinem
Antlitz; er fällt nicht in die Augen des Leibes, sondern erfüllt das Antlitz des
Herzens mit Freude; fasziniert durch seine Liebe, nicht durch seine Farbe.“
In seiner „Narrenpredigt“ erzählt Bernhard seinen Mönchen, wie er das
Kommen des WORTES selbst erfahren hat. Zunächst beschreibt er den
transzendentalen Charakter dieser Erfahrung:
„Jetzt aber ertragt eine kleine Weile ein bisschen Torheit von mir. Ich will,
wie versprochen, erzählen, wie es mir selbst hierin ergangen ist. Das gehört
sich zwar nicht. Doch ich will etwas verraten, um euch zu nützen. Und
wenn ihr dadurch Fortschritte macht, will ich getrost meine Torheit tragen;
wenn nicht, gestehe ich meine Torheit offen ein.
Ich bekenne, auch zu mir ist das WORT gekommen - ich sage das voller
Torheit -, und schon öfter. Obwohl es öfter bei mir eingekehrt ist, habe ich
einige Male sein Eintreten gar nicht bemerkt. Ich spürte, dass es da war. Ich
erinnerte mich im Nachhinein, dass es zugegen gewesen war. Zuweilen
konnte ich auch sein Kommen vorausspüren, aber unmittelbar spüren
konnte ich sein Kommen niemals, und auch nicht sein Gehen. Denn woher
es in meine Seele kam oder wohin es wiederum ging, das, so gestehe ich,
weiß ich bis zur Stunde noch nicht, nach dem Schriftwort: ‚Du weißt nicht,
woher er kommt oder wohin er geht’ (Joh 3,8). Das ist kein Wunder, denn
es ist ja der, von dem es heißt: ‚Und deine Spuren erkennt man nicht’ (Ps
77,20, Vulgata).
Sicher ist das WORT nicht durch die Augen eingetreten, denn es hat keine
Farbe. Auch nicht durch die Ohren, denn es hat keinen Klang. Auch nicht
durch die Nase, denn es durchdringt nicht die Luft, sondern den Geist; hat
zwar die Luft erschaffen, schenkt ihr aber keinen Duft. Auch nicht durch
den Gaumen, denn es ist nichts, was man essen oder trinken kann. Auch
mit dem Tastsinn habe ich es nicht erfasst, denn man kann es nicht
berühren. Auf welchem Weg ist es also hereingekommen ? Oder ist es
vielleicht gar nicht hereingekommen, weil es nicht von draußen gekommen
ist? Denn es ist ja nicht ein Ding außerhalb meiner selbst. Aber es kann
auch nicht aus meinem Innern gekommen sein, weil es gut ist und weil ich
weiß, dass in mir nichts Gutes ist. Ich bin in die höchsten Giebel meines
Wesens hinaufgestiegen - und siehe: das WORT war oberhalb von allem.
Ich bin in die tiefsten Keller meines Wesens als neugieriger Forscher
hinabgestiegen - und dennoch: es fand sich unterhalb von allem. Wenn ich
nach draußen schaute, so erfuhr ich, dass es weiter außen als alles war, was
außerhalb von mir ist. Wenn ich in mein Inneres schaute, dass es weiter
innen als alles war, was in mir ist. Und ich erkannte, wie wahr es ist, was ich
gelesen habe: ‚In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir’ (Apg
17,28). Aber selig ist der, in dem das WORT ist, der für das WORT lebt,
der durch das WORT bewegt wird!“
Dann erläutert er, dass diese unwahrnehmbare Erfahrung des WORTES aus
ihren Wirkungen erschlossen werden könne:
„Du fragst nun, woher ich überhaupt weiß, dass das WORT da ist, wenn
doch alle seine Wege derart unwahrnehmbar sind. Es ist lebendig und
wirksam (vgl. Hebr 4,12). Gleich nach seinem Eintreten weckte es meine
schlafende Seele auf. Es bewegte, erweichte und verwundete mein Herz,
denn dieses Herz war hart und steinern und recht krank. Das WORT
begann auszureißen und zu zerstören, aufzubauen und zu pflanzen (vgl. Jer
18,9), das Dürre zu bewässern, das Finstere zu erleuchten, das Verschlossene zu öffnen, das Gefrorene in Glut zu versetzen, das Krumme
gerade und das Unebene zu ebenen Wegen zu machen (vgl. Lk 3,5), so dass
meine Seele den Herrn pries, und alles, was in mir ist, seinen heiligen
Namen (vgl. Ps 103,1). So trat zu mir manchmal das WORT als Bräutigam
ein. Aber niemals hat es sein Eintreten durch irgendwelche Anzeichen
kundgetan, weder durch ein Wort, noch durch eine Gestalt oder einen Schritt. Kurz: durch keinerlei Bewegung seiner selbst wurde es mir offenbar, durch keines meiner
Sinnesorgane glitt es in mein Inneres. Nur an der Erregung meines Herzens
habe ich, wie schon gesagt, seine Gegenwart erkannt. Am Schwinden meiner
Leidenschaften, am Zusammenschrumpfen meiner fleischlichen Empfin-
dungen merkte ich seine mächtige Wirkkraft. Am Aufstöbern und Entlarven
meiner verborgenen Schwächen und Fehler stellte ich staunend die Tiefe
seiner Weisheit fest. An einer noch so geringen Verbesserung meiner
Lebensart erfuhr ich, wie gut und mild es war. An der Erneuerung und
Wiederherstellung meiner inneren Gesinnung, das heißt meines inneren
Menschen, stellte ich bis zu einem gewissen Grad fest, wie schön seine
Gestalt war. Und angesichts all dieser Wirkungen geriet ich in Schrecken
und Staunen ob seiner gewaltigen Größe.
Doch sobald das WORT wieder entschwunden ist, beginnt all dies sogleich
wie in einer Krankheit starr und kalt dazuliegen, wie wenn man unter einem
kochenden Topf das Feuer wegnimmt. Und das ist für mich das Zeichen,
dass es fortgegangen ist: Meine Seele wird mit einem Mal traurig, bis es
wiederkommt und wie gewohnt mein Herz in meinem Innern erwärmt.
Diese Erwärmung wäre mir das Zeichen dafür, dass es zurückgekehrt ist. Da
ich schon solches mit dem WORT erfahren habe, darf es nicht Wunder
nehmen, wenn ich mir auch die Stimme der Braut aneigne, um das WORT
zurückzurufen, wenn es sich entfernt hat. Trägt mich doch, wenn nicht die
gleiche, so doch eine zumindest stückweise ähnliche Sehnsucht. Zeit meines
Lebens wird dieses ‚Komm zurück!’ (Hld 2,17) ein Wort sein, das ich oft
gebrauchen werde, um das WORT zurückzurufen.“
Eine Wirkung der Nähe des WORTES ist auch die Erfahrung, dass sich ihm die
Geheimnisse des Wortes Gottes erschließen:
„Wenn ich spüre, wie mein Sinn geöffnet wird für das Verständnis der
Heiligen Schrift, oder wie das Wort der Weisheit gleichsam aus meinem
Innersten hervorsprudelt, oder wie mir von oben Licht eingegossen wird
und sich mir Geheimnisse erschließen, oder wie der Himmel mir sozusagen
seinen unermesslich weiten Schoß öffnet und von oben meinen Geist mit
einem überreichen Regen von Meditationsanregungen überschüttet: dann
zweifle ich nicht, dass der Bräutigam da ist. Denn das sind die Schätze des
WORTES, und aus seiner Fülle empfangen wir all dies.“
Oder, statt der Erfahrung der Fülle, die Erfahrung vollkommener Einfachheit,
Bildlosigkeit und Ruhe:
„Es gibt einen Raum, wo man Gottes in seiner Stille und Ruhe gewahr wird.
Das ist nicht der Raum, wo Gott als Richter oder als Lehrer, sondern wo er
als Bräutigam begegnet. Möge das doch auch meine .. . Ruhekammer
werden, wenn mir zuteil wird, irgendwann darin eingeführt zu werden! Aber
ach: das gelingt zu seltener Stunde einen kurzen Moment! ...
(Als es mir einmal geschenkt wurde), da stieg in mir plötzlich eine solche
Zuversicht auf - obwohl ich wusste, ein Sünder zu sein und eine solche
Freude strömte in mich ein, dass sie sicher weit größer war als die Furcht,
die ich zuvor am Ort des Schreckens ...(d.h. auf der Vorstufe dazu)
empfunden hatte. Und ich kam mir vor wie einer der Seligen des Himmels.
O hätte das doch angedauert! Komm wieder, Herr, komm wieder und suche
mich heim mit deinem Heil, damit ich das Glück deiner Auserwählten
schaue und mich freue an der Freude deines Volkes (Ps 106, 4-5)!
O Stätte wahrer Ruhe! Nicht zu Unrecht habe ich dich als Ruhekammer
bezeichnet. Hier schaut man Gott nicht wie im Zorn erregt oder wie von
Sorgen zerrissen, sondern hier erweist sich sein Wille als gut, als
wohlgefällig und vollkommen. Diese Schau schreckt nicht, sondern beruhigt
voll Milde; sie weckt keine unruhige Neugier, sondern stillt; sie ermüdet
nicht die Sinne, sondern lässt sie zur Ruhe kommen. Hier ruht man wirklich.
Der stille Gott erfüllt alles mit Stille: und ihn in seiner Ruhe schauen, heißt
selbst ruhen...
Wenn einmal einer von euch in einer glücklichen Stunde in dieses geheime
Gemach und in dieses Heiligtum Gottes entrückt wird, dann ist er dort
geborgen. Nichts lenkt ihn dort ab und verwirrt ihn; kein umherschweifen-
der Sinn, keine quälende Sorge, kein nagendes Schuldbewußtsein, und selbst
nicht die Phantasie, die noch schwerer zum Schweigen zu bringen ist,
behelligt ihn mit ihren plastischen Bildern. Wer von dort zu uns
zurückkommt, kann sich rühmen und sagen: ‚Der König hat mich in seine
Ruhekammer geführt’ (Hld 1,3).“
Und dann wird wieder, in dieser Intimität mit dem WORT, der Auftrag
vernehmbar, zu seinen Brüdern zu eilen:
„Die Braut hört, sie solle sich aufmachen und eilen: zweifellos, um andere
Menschen zu gewinnen. Denn der wahren, selbstlosen Kontemplation ist es
eigen, den Geist, den sie am göttlichen Feuer zu heller Glut entfacht hat, immer wieder mit großem Eifer und heftigem Verlangen dazu zu drängen,
andere Menschen für Gott zu gewinnen. Sie sollen ihn ebenso lieben wie er
selbst, und der Verkündigung des Wortes zuliebe unterbricht er gern die
Ruhe der Beschauung. Kommt dann dieser Drang wieder zur Ruhe, so eilt
er mit um so größerer Sehnsucht zu sich selbst zurück, je mehr er erfährt,
dass die Unterbrechung seiner Beschauung belohnt wird. Und wiederum eilt
er, nachdem er aufs Neue die Beschauung gekostet hat, mit frischer Kraft
und mit dem gewohnten Schwung los, um andere für Gott einzufangen.
Übrigens ist der Geist bei einem derartigen dauernden Wechsel meist hin-
und hergerissen. Die Furcht bereitet ihm heftiges Kopfzerbrechen, ob er
angesichts der Zerrissenheit seiner Interessen nicht vielleicht doch mehr als
angemessen sich der einen oder anderen Seite zuwendet und so hier oder
dort, wenn auch nur wenig, vom göttlichen Willen abweicht. Vielleicht hat
auch der heilige Job etwas ähnliches erfahren, als er sagte: ‚Wenn ich
schlafen gehe, frage ich: wann darf ich mich erheben? Und wiederum warte
ich auf den Abend’ (Job 7,4). Das heißt: In der Ruhe habe ich ein
schlechtes Gewissen, meine Arbeit zu versäumen, und bei der Arbeit habe
ich ein schlechtes Gewissen, meine Ruhe aufgegeben zu haben. Du siehst,
wie der heilige Mann zwischen segensreicher Tätigkeit und ruhevoller
Kontemplation schmerzlich hin- und herschwankt. Und mag er sich auch
immer mit fruchtbaren Dingen abgeben, so büßt er es doch dauernd, als
habe er etwas Böses getan, und in jedem Augenblick fragt er seufzend, was
wohl der Wille Gottes sei. Das einzige Heilmittel, die einzige Zuflucht in
solchen Nöten ist das Gebet, das häufige Flehen zu Gott, er möge uns
jederzeit gnädig wissen lassen, was und wann und wie wir etwas tun
sollen.“