Was für mich die Heimatkunde so spannend macht, habe ich formuliert in meiner Ansprache bei der Vorstellung des II. Bands der Winzinger Ortsgeschichte am 17. Oktober 2010 in Winzingen:
Für mein Gefühl platzt dieses Buch schier aus allen Nähten vor lauter Menschen und Schicksalen. „Schier“ sage ich, weil natürlich Herr Konrad vom Verlag für eine zuverlässige Bindung gesorgt hat.
Dass mir sein Inhalt so berstend voll vorkommt, rührt daher, dass ich ihn nicht bloß jahrelang zusammengesucht und geschrieben habe, sondern dass ich dieses Buch im Lauf des letzten Jahres zudem noch mindestens zehnmal gründlich durchgesehen, überarbeitet und korrigiert habe. Im Lauf dieser Arbeit wurden mir alle, die darin vorkommen, zu engen Bekannten. Was sie erlebt haben, ging mir gewaltig unter die Haut, Schlimmes wie Amüsantes. Manche sind mir zuweilen sogar im Schlaf nachgegangen.
Etwa die Winzinger Witwe Barbara Schmid, die in ihren letzten Jahren in der Nachbarschaft betteln gehen musste, deswegen in Ottenbach eine Woche lang eingesperrt wurde und schließlich im Juli 1849 tot im Wald gefunden wurde, 61 Jahre alt. Sie hatte acht Kinder geboren, von denen sieben binnen Jahresfrist gestorben waren, und der einzige Sohn war ein bettelarmer Taglöhner.
Oder der Lehrersohn Abraham Gaugele, der 1781 gegenüber dem Obervogt des Ortsherrn zu energisch seine zwei Brüder verteidigt hatte, weil sie anlässlich einer Hochzeit draußen auf den Wiesen geschossen hatten. Zur Strafe ließ ihn der Ortsherr zwangsweise zum Militär einweisen und verbannte ihn für immer aus Winzingen; 37 Jahre danach kam von irgendwoher die Meldung, er sei an „Lungensucht“ gestorben.
Glimpflicher kam der aufbrausende Odelhans Anton davon, dessen Haus hier an der Stelle des jetzigen neuen Bürgerhauses steht. Der hatte 1787 den Gemeindehummel gehalten und die Winzinger Bauern hatten sich beschwert, der tauge nichts. Da schrie er sie an, wem sein Hummel nicht recht sei, der solle seine Kühe halt zum Schultes führen und der solle den Hummel vertreten. Wegen dieser Beleidigung wurde er zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt.
Oder da sind die ledigen Mütter, die für immer des Ortes verwiesen wurden und als Bettlerinnen durch die Gegend streiften; die Winzinger Kinder, die im 19. Jahrhundert von klein an in die „Industrieschule“ mussten, was ein anderer Name für Arbeitshaus war; damit die Hirtenkinder nicht faulenzten, mussten sie während des Hütens Körbe flechten.
Oder mir gehen die elf neunzehn- oder zwanzigjährigen Winzinger Burschen aus den Familien Heilig, Blessing, Ziller, Geiger und anderen nach, die als württembergische Soldaten mit Napoleon nach Russland in den Krieg ziehen mussten und nie mehr wiederkamen; und auch die vielen jungen Leute – vor allem Knechte und Mägde und nachgeborene Kinder, die nie eine Heiratserlaubnis bekamen, weil die Gemeinde der Auffassung war, sie könnten keine Familie gründen und ernähren; und wenn sie trotzdem als Paar zu leben versuchten, wurden sie immer wieder wegen Unzucht bestraft.
Oder ich denke an die vielen, die die Armut zum Auswandern zwang: zwei Töchter des Nazesbauern gegen 1830 nach Griechenland, insgesamt rund fünfzig weitere nach Amerika – einer stürzte dort 1866 bald nach seiner Ankunft in einen Fluss und ertrank -, mehrere nach Ungarn, einer namens Gregor Geiger sogar nach Afrika, und es wurde verzeichnet, er sei dort verschollen. Auch von den meisten anderen Ausgewanderten erfuhren ihre Eltern, Geschwister, Verwandten nie mehr etwas, etwa der Jäcklesbauer – der spätere Nillesmichel – von vier nach Amerika ausgewanderten Kindern; auch was aus einer Witwe Widmann mit fünf Kindern in Amerika wurde, weiß niemand, und von der ledige Franziska Ziller von Pfohles mit ihrem einjährigen Kind weiß man nur, dass dieses Kind im ersten Jahr in Amerika starb.
Oder mir kommt der Polizeidiener Fischer in den Sinn, der zugleich Nachtwächter war und die ganze Nacht im stockfinstern Dorf patrouillieren, die Stunden ausrufen und scharf aufpassen musste, dass es zu keinen verdächtigen Zusammenkünften junger Leute beiderlei Geschlechts kam. Im Sonntagsgottesdienst musste er auf der überfüllten Kirchenempore Wache halten, um bei den jungen Burschen, die dauernd rangelten und Unfug machten, für Disziplin zu sorgen, und wenn er es nicht schaffte - was öfter der Fall war -, musste er selber eine Strafe zahlen. Und und und…
Aber das und sehr viel mehr kann man jetzt ja alles in diesem Buch hier ausführlich nachlesen. Man begegnet auch den Ortsherren und ihren Vögten, den Schultheißen (bemerkenswerterweise waren das zweimal und durch sehr lange Amtszeiten hindurch gebürtige Schnittlinger, Niklaus Kemmel im 18. und Bernhard Brühl im 19. Jahrhundert), und natürlich erfährt man auch von den Bauern, die soviel Fronarbeiten für den Ortsherrn leisten mussten, dass ihre Zugtiere und Wägen zuschanden wurden, und von den Häuslern und von den Wichtigen und Unwichtigen.
Außerdem erlebt man hautnah die Zeitläufe mit, die fast ständigen Belastungen durch Kriege und einquartierte Soldaten, die alles kahlfraßen; man lernt das kirchliche Leben kennen (das die Pfarrer ausführlich schriftlich festgehalten haben; man erfährt, wie es im 19. Jahrhundert unter Pfarrer Josef Grupp eine überraschend „moderne“ Reform gab und dann unter Pfarrer Schmid eine energische Restauration des Alten); man erlebt den Niedergang der dekadenten Ortsherrschaft mit, die es so weit brachte, dass schließlich das Dorf samt Bewohnern komplett versteigert werden musste; liest, wie das seit undenklichen Zeiten freie Rittergut Winzingen vom Königreich Württemberg verschluckt wurde, dessen junge Männer von da an nach ich weiß nicht wie viel hundert Jahren erstmals zum Kriegsdienst eingezogen wurden, was dem Dorf seine erste traumatische Erfahrung mit zahlreichen für immer vermissten Soldaten bescherte. Man erfährt, wie das Feudalsystem funktionierte und dann Mitte des 19. Jahrhunderts endlich abgeschafft wurde, was die Bauern in neue Schuldenfallen und Bankrotte trieb. Man lernt die Anfänge der Industrialisierung kennen; erfährt, wie Göppingen in den 1830er Jahren den Bau der Poststraße von Gmünd nach Donzdorf verhindern wollte, damit die Straße über Lenglingen-Göppingen weiterhin die einzige Verbindung zwischen Rems- und Filstal blieb, und wie der Gutbauer Joseph Dangelmaier schon 1870 den Anstoß zum Bau der Straße nach Reichenbach gab, und weshalb sie erst 1893 gebaut wurde, und vieles, vieles andere. Sie finden das alles vorne im Buch in einem ganz ausführlichen Inhaltsverzeichnis aufgelistet.
Ich habe versucht, möglichst viel die alten Quellen und damit die Menschen von damals selbst sprechen zu lassen, und auch deshalb sind sie mir so nahe gekommen.
Warum macht man sich die große Mühe, so viel längst Vergangenes auszugraben und aufzubereiten? Das ist schlecht zu erklären. Wahrscheinlich braucht man einen besonderen Spleen dafür. Es ist die gleiche Art Forscherdrang und Leidenschaft, mit der man eine unbekannte Landschaft erkunden will. Natürlich weiß man aus den Geschichtsbüchern vieles über die Vergangenheit; aber es ist etwas anderes, den Menschen der Vergangenheit sozusagen persönlich zu begegnen. Sie haben ganz anders gelebt, gedacht, gefühlt als wir heute. Das wird einem erst recht bewusst, wenn man sie genauer kennenlernt. Man erfährt dabei genauer, wo man herkommt und wie das geworden ist, was heute ist.
Heimweh, Nostalgie nach der Vergangenheit kriegt man dabei kaum. Die Zeiten waren meistens unvorstellbar schwer. Wir können froh sein, dass wir heute leben dürfen. Vielleicht werden wir auch dankbar für das, was unsere Vorfahren uns aufgebaut haben; dafür, dass sie so zäh und hoffnungsvoll waren, das Leben immer weiterzugeben, bis an uns. Man muss geradezu staunen, dass ihnen nie die Puste ausgegangen ist.
Sie werden das merken, wenn Sie dieses Buch lesen; und vielleicht mit neuen Augen sehen, was wir heute sind und haben.
Ich freue mich, dass ich euch Winzingern diese Begegnung mit euren eigenen Vorfahren ermöglichen kann. Am Schluss des Buchs findet sich ein ausführliches Namensregister, so dass jeder ganz leicht seine Familienangehörigen finden kann; außerdem enthält der letzte Teil des Buchs eine Besitzergeschichte aller alten Häuser.
Denen, die nicht schon lange Winzinger Vorfahren haben, kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass die Begegnung mit den Winzingern des 18. und 19. Jahrhunderts auch ihnen viel schenken kann. Sie fassen dadurch ganz anders hier Wurzel. Sie können geradezu spüren, was hier alles erlebt und gelebt wurde, wenn Sie durch den Ort und die Landschaft hier gehen. Damit sind Sie noch einmal anders hier daheim.
Archiv-Arbeit ist etwas Langwieriges und Zeitraubendes. Wie gesagt, man braucht einen besonderen Spleen, um jahrelang alte Urkunden und Schriften aufzuspüren und dann viele Tage von morgens bis abends darüber zu sitzen und sie zu entziffern und abzuschreiben. Wenn man irgendwo in ein Archiv reist – nach Stuttgart, Ludwigsburg, Rottenburg, Donzdorf – muss man ja möglichst acht bis zehn Stunden hart dran bleiben, damit sich die Fahrt lohnt. Hinter manchem Satz dieses Buches steckt ein ganzer Tag Sucharbeit. Aber wenn man dann wieder mit diesem Aufwand etwas gefunden hat, etwas Neues, das noch kein Mensch weiß, dann freut man sich und hat das Gefühl, dass die Mühe sich rentiert hat.
Dabei geht es nicht nur um Sachen, Verhältnisse und Ereignisse, sondern vor allem auch um Menschen: um unzählige Menschen, die längst ganz in der Vergessenheit versunken sind, selbst bei ihren direkten Nachkommen. Es geht auch darum, so viele verlorene, ganz und gar vergessene Leben wieder in die Erinnerung zurückzuholen und ihnen damit posthum wenigstens ein bisschen mehr Wert und Würde zu schenken. Das kriegen sonst bloß immer die Mächtigen und Großen. Napoleon Bonaparte ist unvergesslich und in hohen Ehren, obwohl er Millionen von jungen Männern in den Tod gerissen hat. Jeder dieser Gefallenen hinterließ trauernde Eltern und Geschwister oder eine Frau oder Braut oder Kinder -, aber sie alle, darunter Johannes Heilig, Franz Ziller, Johannes Geiger und Sebastian Blessing und noch sieben weitere aus Winzingen, die waren noch nie einer Bemerkung wert.
Etlichen dieser Vergessenen also eine Art Nach- und Weiter-Leben zu bescheren, und den Heutigen eine erstmalige Erinnerung an sie und damit eine Begegnung mit ihnen, die nicht ohne ihre ganz eigene Wirkung bleibt – das macht ein gutes Stück weit den Reiz einer solchen Arbeit aus. Ortsgeschichte ist eher eine Geschichte der kleinen Leute als der großen, die auf ihre Kosten Ruhm erlangt haben.
Diese Forscher- und Entdecker-Leidenschaft ist es, die einen packen kann, diese spannende Aufgabe, etliches zu finden, was noch in keinem Buch steht und was man noch nicht im Internet zusammensuchen und daraus zusammenkopieren kann. Allein in Ludwigsburg gibt es – wenn ich mich an die Zahl recht erinnere – sechzehn Kilometer Regale voller Archivmaterial, das zum Großteil noch nicht ausgewertet, sondern bloß grob sortiert ist. Das kommt mir auf unserer ansonsten so völlig ausgeleuchteten Welt spannend wie ein unerforschter Kontinent vor. Und wenn man es dann schafft, vier, fünf Regalmeter erstmals auszuwerten, fühlt man sich wie ein Entdecker und will das natürlich auch mit anderen teilen. Und dann schreibt man halt eine Ortschronik.
Ein weiteres Erlebnis ist der geradezu physische Kontakt mit unseren Vorfahren. Die Möglichkeit dazu wird in Zukunft rasch geringer werden, je mehr das Archivmaterial verfilmt oder digitalisiert wird. Schließlich wird man nur noch zu Filmen oder Dateien Zugang haben, nicht mehr zu Original-Schriftstücken. Aber vorerst kann man das noch erleben: Seinen Handballen auf die Stelle legen, an der 1799 der Handballen des letzten Freiherrn von Bubenhofen lag, als er das Schriftstück unterschrieb, das man vor sich hat, oder die Tinte berühren, mit der 1817 Pfarrer Grupp mit seiner zierlichen Schrift seine Pfarramtsbeschreibung verfasste.
Als ich ein Gemeinderechnungsbuch fotokopierte, das der Oberbauer Josef Nagel mit seiner gestochen schönen Schrift 1832 geschrieben hat, merkte ich zu spät, dass in das Kopiergerät eine Menge ganz feiner Sand gerieselt war, der im Falz der Seiten gesessen hatte. Das war sogenannter „Schreibsand“. Denn damals hatte man noch Tinten, die lange zum Trocknen brauchten, und deshalb benützte jeder Schreiber eine Büchse mit Schreibsand, mit dem er seine frische Schrift wie mit dem Salzstreuer bestreute, damit sie rascher trocknete. Als da unversehens dieser feine Sand auf der Glasplatte des Kopiergeräts auftauchte, hatte ich das Gefühl, als sei er mir direkt aus 176 Jahren Entfernung zugerieselt. Dieses Empfinden der Gleichzeitigkeit, diese lebendige Begegnung mit dem, was so lange zurückliegt, ist ganz eigenartig.
Aber jetzt habe ich lang genug geredet. Ich hoffe, dass ich Sie mit diesem Buch an diesem Leben und dieser Begegnung teilhaben lassen kann, also an dem, was mich angeweht hat und beschäftigt hat, und dass es auch Sie alle anrührt und beschenkt, aus diesem Buch, das prallvoll von Menschen und Schicksalen ist.